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29.10.05 / Über Deutschlands Interessen debattieren / Auszüge aus der Rede von Bundespräsident Horst Köhler zur 40. Kommandeurtagung der Bundeswehr

© Preußische Allgemeine Zeitung / 29. Oktober 2005

Über Deutschlands Interessen debattieren
Auszüge aus der Rede von Bundespräsident Horst Köhler zur 40. Kommandeurtagung der Bundeswehr

Die Frauen und Männer der Bundeswehr machen aus der gegenwärtigen Lage das Beste. Sie verdienen für ihre Haltung und für ihre Leistung hohes Lob. Aber sie verdienen noch mehr als das: Sie haben Anspruch darauf, daß sich unsere Gesellschaft bewußt macht, was der Bundeswehr abverlangt wird und welche Aufgaben sie künftig übernehmen soll. Sie haben Anspruch auf Klarheit über den politischen und militärischen Sinn ihres Dienstes. Sie haben Anspruch auf die in der Verfassung verankerte besondere Verantwortung und Fürsorge des Parlaments für die Bundeswehr. Und sie haben Anspruch auf optimale Ausbildung und Ausrüstung für ihren schweren und gefährlichen Dienst.

Ein Indianerhäuptling soll sich nach einer Flugreise in die Ankunftshalle gesetzt und gesagt haben: "Jetzt muß ich erst einmal warten, bis meine Seele meinem Körper hinterhergekommen ist." Die Bundeswehr hat mit ihren Auslandseinsätzen in kurzer Zeit eine sehr weite Strecke zurück-gelegt; aber ist das öffentliche Bewußtsein hinterhergekommen? Ich habe da meine Zweifel.

Mich macht nachdenklich: Die Bundeswehr wird von einer Selbstverteidigungsarmee umgebaut zu - was eigentlich? Einer Armee im Einsatz? Einer Interventionsarmee? Der Deutsche Bundestag stimmt mehr als vierzig Mal dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland zu; aber die Deutschen wirken von all dem kaum berührt oder gar beeindruckt.

Gewiß, die Bundeswehr ist gesellschaftlich anerkannt; aber was heißt das eigentlich genau? Die Deutschen vertrauen der Bundeswehr, mit Recht, aber ein wirkliches Interesse an ihr oder gar Stolz auf sie sind eher selten. Noch seltener sind anscheinend der Wunsch und das Bemühen, den außen- und sicherheitspolitischen Wandel zu verstehen und zu bewerten, der da auf die Bundeswehr einwirkt.

Natürlich lassen sich für dieses freundliche Desinteresse Gründe angeben: Die Deutschen sind nach 1945 ein wirklich friedliebendes Volk geworden und halten gern vorsichtige Distanz zu allem Militärischen. Die Wehrpflicht hat in der Praxis fast den Charakter der Freiwilligkeit angenommen, das verringert für viele Bürger die lebenspraktische Bedeutung der Bundeswehr. Zugleich fördert es die Fehleinschätzung, Soldaten seien eine Berufsgruppe wie andere, und wenn sie freiwillig im Ausland unterwegs seien, dann auf eigene Gefahr und außerdem ja auch zu höheren Tagessätzen. Auch das Bedrohungsgefühl hat sich auseinander entwickelt: Früher drohte den Bürgern in Zivil und den Bürgern in Uniform dieselbe Kriegsgefahr, heute scheinen die Heimat friedlich und die Einsatzorte der Bundeswehr weit.

Alle diese Einstellungen mögen gutartig sein; aber zeugen sie nicht auch von einem bedenklichen Mangel an Kenntnissen, an aufgeklärtem Eigeninteresse und an politischem Wirklichkeitssinn? Wenn die Deutschen so wenig vom Ernst des Lebens wissen, auf den die neue Bundeswehr eine Antwort ist, dann werden sie nur schwer einschätzen können, welchen Schutz die neue Sicherheitspolitik verspricht, welche Gefahren sie möglicherweise mit sich bringt, ob der Nutzen die Kosten wert ist und welche politischen Alternativen Deutschland und die Deutschen bei alledem eigentlich haben. Das müssen sie aber einschätzen können, damit sie die nötige demokratische Kontrolle ausüben können, damit sie innerlich gewappnet sind für die kommenden Herausforderungen und damit sie den Dienst ihrer Mitbürger in Uniform zu schätzen wissen und aus Überzeugung hinter ihnen stehen.

Darum wünsche ich mir eine breite gesellschaftliche Debatte - nicht über die Bundeswehr, sondern über die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik unseres Landes.

Diese Debatte braucht klare Analysen, welche deutschen Interessen es zu schützen und zu fördern gilt, vor welchen Herausforderungen und Bedrohungen wir dabei stehen, auf welche Ressourcen wir zählen können, wie wir vorgehen und welche Rolle dabei die Bundeswehr übernimmt. Vor allem der Deutsche Bundestag, die Bundesregierung und die politischen Parteien sind gefordert, eine solche Gesamtschau zu entwickeln und den Bürgern vorzustellen. Das ist eine Gemeinschaftsaufgabe, denn wo es um die Lebensinteressen unseres Landes geht, da muß ein Konsens der Demokraten möglich sein ...

Es schafft Vertrauen, wenn bei uns offen über die deutschen Interessen debattiert wird; denn dann braucht niemand zu argwöhnen, wir hielten unsere Absichten verborgen ...

Auch in Zukunft steht unsere Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik unter dem Primat, unsere Ziele in Bündnissen und Koalitionen zu verfolgen, wo immer möglich. Das ist auch deshalb unverzichtbar, weil die supra- und internationalen Organisationen eine immer wichtigere Rolle spielen und immer mehr Eigenleben und Eigensinn entwickeln. Um so mehr sollten wir allerdings prüfen, wie sich in diesen Organisationen die deutschen Belange bestmöglich vertreten lassen ...

Die neuen Herausforderungen an unsere Sicherheitspolitik werfen auch die Frage auf, ob das Zu-sammenwirken von Bund und Ländern, von Bundestag und Bundesregierung, von Ministerien und Behörden weiter verbessert werden kann und muß. Was spricht zum Beispiel für, was gegen einen neuen, ressortüber-greifenden Ausschuß des Deut-schen Bundestages für Sicher-heitspolitik? ...

Die Bundeswehr ist Bündnisarmee, und Deutschland hat ein vitales Interesse daran, ein verläßlicher Partner zu sein; aber stellt sich nicht um so dringlicher die Frage, für welche Einsatzzwecke oder -regionen wir uns binden wollen und von welchen wir von vornherein Abstand halten sollten?

Weiter: Was bedeutet der sich durchsetzende erweiterte Sicherheitsbegriff für die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Bundeswehr? Der Bundestag hat wie erwähnt schon sehr oft dem Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland zugestimmt, aber noch nicht ein Mal den Verteidigungsfall festgestellt. Daran ist verfassungsrechtlich nichts auszusetzen, aber erfordert der Wandel der Bundeswehr und ihres Auftrags nicht doch verfassungspolitisch und vielleicht sogar verfassungsrechtlich einen be-wußten neuen Konsens?

Daran schließt sich gleich die Frage an, wie es angesichts der neuen, weltweiten Rolle der Bundeswehr um die Wehrpflicht bestellt ist. Sie wurde ja bisher mit der Pflicht des Staatsbürgers zur Verteidigung des Vaterlandes begründet. Ich bin ein überzeugter Anhänger der Wehrpflicht und wünsche ihr von Herzen Zukunft, weil sie der Bundeswehr viele kluge Köpfe zuführt, weil sie die Streitkräfte am besten in der Nation verwurzelt und auch deshalb, weil der Dienst am Gemeinwesen persönlichkeitsbildend wirkt - darum werbe ich übrigens auch mit Nachdruck für freiwillige zivile Dienste. Aber die Wehrpflicht wurde eben doch als Pflicht zur Abwehr eines Angriffs auf die Heimat eingeführt, und von diesem Zweck entfernt sich das Einsatzbild der Bundeswehr ...

Die Bundeswehr hat unserem Land 50 Jahre treu gedient. Sie hat damit ihre eigene, gute Tradition begründet, und sie pflegt die Tradition ihrer Vorgängerarmeen, getreu dem Apostelwort: "Prüfet alles! Das Gute behaltet!" ...

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