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29.10.05 / Die große Koalition und die Vertriebenen / "Zentrum gegen Vertreibungen" droht Stillstand - Beschwichtigungspolitik gescheitert

© Preußische Allgemeine Zeitung / 29. Oktober 2005

Die große Koalition und die Vertriebenen
"Zentrum gegen Vertreibungen" droht Stillstand - Beschwichtigungspolitik gescheitert
von Gernot Facius

Deutschland im Herbst 2005. Der Wind des Wandels ist verweht. Die Berliner Großkoalitionäre, sollten sie tatsächlich zusammenfinden, bleiben in der Furche, die Rot-Grün in sieben Jahren Regieren gezogen hat. Der designierte Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), ein "glühender Verteidiger der Konsensdemokratie" ("Die Zeit") will unter einer Kanzlerin Angela Merkel die "kluge Politik" des Kabinetts Schröder-Fischer fortsetzen. Setzt man an die Stelle von "klug" den Begriff "politisch korrekt", was der Wirklichkeit schon näher kommt, dann müssen die deutschen Heimatvertriebenen ihre Hoffnung auf - wenigstens symbolische - Heilung der kollektiven Menschenrechtsverletzungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs begraben. Die Marginalisierung dieser "Randgruppe", wie Schröder die aus Ostdeutschland, dem Sudetenland und den südosteuropäischen Staaten Verjagten apostrophierte, schreitet voran. Die Ökonomie dominiert die Politik. Wer das Recht auf Heimat reklamiert, wer eine glasklare Distanzierung Warschaus und Prags von den kalt kalkulierten Vertreibungen einfordert und sich nicht mit einem halbherzigen Bedauern über "Exzesse" zufriedengibt, wird als Störenfried in die politische Schmuddelecke gestellt.

Der neue Bundestagspräsident, Norbert Lammert (CDU), hat sich für eine Debatte über eine deutsche Leitkultur ausgesprochen. Von "Patriotismusdebatte" ist wieder die Rede. Gut gebrüllt, Löwe! Der intellektuelle Lammert ist ein ehrenwerter Mann, zweifellos eine Lichtgestalt unter den vielen mediokren Polit-Figuren. Aber läßt sich eine Patriotismusdebatte führen ohne das Schicksal von 15 Millionen Ostpreußen, Schlesiern, Pommern, Sudetendeutschen etc. in das so oft beschworene kollektive Gedächtnis der Deutschen ehrlich einzubeziehen? Das Trauerspiel um das "Zentrum gegen Vertreibungen" (ZgV) hat doch gezeigt, daß Politiker in Berlin schon beim leichtesten Windstoß aus den ehemaligen Vertreiberstaaten einknicken. Gewiß, Angela Merkel hat im Wahlkampf tapfer das ZgV-Projekt verteidigt. Jetzt aber kommt es zum Schwur. Nun muß sie beweisen, daß dies mehr als nur ein taktisches Bekenntnis war. Das Personal, das ihr möglicher Koalitionspartner aufbietet, ist das gleiche, dem es bisher im Schulterschluß mit einer in die "political correctness" verliebten Publizistik gelungen ist, das Zentrumsprojekt als abstruse, potentiell gefährliche, "revisionistische" Idee darzustellen.

Das große Gedenkjahr 2005 liegt bald hinter uns. Es stand, wie könnte es bei der bekannten Geschichtsvergessenheit sein, unter dem dubiosen Leitwort "Befreiung". Darf man sich an diese Sprachmanipulation gewöhnen, auch wenn sie aus dem Mund angesehener Politiker, Publizisten und Kirchenleute kommt? Daß das Datum 60 Jahre Kriegsende auch mit der Erinnerung an Vertreibung und Flucht verbunden ist, daß zum Beispiel im Oktober vor 60 Jahren Edward Benesch mit seinen berüchtigten Präsidialdekreten das gesamte Vermögen von "Personen deutscher oder madjarischer Nationalität" konfiszierte und mehr als drei Millionen Deutsche in der Nachkriegstschechoslowakei entrechtete, war den sonst Erinnerungstrunkenen der politischen Klasse nicht eine Minute des Gedenkens wert.

Die Ursache-Wirkung-Theorie, mit der die "Bevölkerungstransfers", der "Abschub" oder wie immer die verniedlichenden Bezeichnungen lauten, bemäntelt werden, ist zu schlicht, um die Vertreibungstragödie zu erklären. Der amerikanische Völkerrechtler und Historiker Alfred de Zayas, ein ehemaliger Beamter der Vereinten Nationen, spricht von einer rein ideologischen Konstruktion, die geschichtswissenschaftlich nicht zu halten sei. Denn Tschechen und Polen haben bereits vor Hitlers Krieg Pläne zur Annexion Ostdeutschlands und zur Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei gehegt. Der Krieg, so de Zayas, habe ihnen lediglich die Möglichkeit geboten, ihre aggressiven Absichten auszuführen. Die Denkfigur "Wir waren die Ersten hier, uns gehört dieses Land, die anderen sind Eindringlinge" hat zumal im Verhältnis der Tschechen zu den Deutschen eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Wie sagte der als großer Humanist verehrte Tomas Masaryk in seiner ersten Botschaft im Dezember 1918 an die "tschechoslowakische Nation"? "Was die Deutschen in unseren Ländern betrifft, ist unser Programm längst bekannt; das von den Deutschen bewohnte Gebiet ist unser Gebiet und wird unser bleiben. Wir haben unseren Staat geschaffen; dadurch ist die staatsrechtliche Stellung unserer Deutschen bestimmt, die ursprünglich als Immigranten und Kolonisten in unser Land kamen." Was hat dieser verhängnisvolle Satz nicht alles ausgelöst? Bis hin zum berüchtigten Rundfunkappell des Verteidigungsministers von Beneschs Exilregierung in London, Sergej Ingr, vom 3. November 1944: "Wenn unser Tag kommt, wird das ganze Volk wieder den alten Hussitenruf anstimmen: Schlagt sie, tötet sie, laßt niemanden am Leben!" Ganz in der Tonlage Ilja Ehrenburgs, der dazu aufrief: "Tötet den Deutschen, wo ihr ihn findet. Macht keinen Unterschied zwischen Soldaten und Zivilisten, tötet Frauen und Kinder, rottet sie alle aus!" Und es wurde ja dann kein Unterschied gemacht. "Wir müssen sie alle hinauswerfen, denn einen Staat baut man aus einer Nation und nicht aus vielen Volksgruppen." Das war O-Ton Wladislaw Gomulka. So begründete er in einer geheimen Sitzung, warum die Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße vertrieben werden müßten. Wohlgemerkt: nicht aus Polen, sondern aus Schlesien, Ostbrandenburg, Hinterpommern, Ostpreußen, Danzig. Es war keine "Aussiedlung der Deutschen aus Polen", wie heute gelegentlich zu hören ist.

Daß sich Polen und Tschechen in der Vertreibungsfrage noch immer hinter den Alliierten und den Potsdamer Beschlüssen verstecken können, ohne von offizieller deutscher Seite für diese Geschichtslüge gerügt zu werden, ist ein Skandal ersten Ranges. Eine raffinierte Propaganda hat die billige Ursache-Wirkung-Theorie in die Köpfe der Menschen gehämmert. Selbst die Kanzlerin in spe ist dagegen nicht gefeit. Dabei sollte längst klar sein: Die Rechtfertigung (oder politische Hinnahme) von Gewalttaten durch vorangegangene Gewalttaten ist die Übertragung des archaischen Blutracheprinzips auf moderne Gesellschaften. Jede Vertreibung ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wiedergutmachung im engen Wortsinn ist nicht möglich. Wohl aber moralische Heilung. Durch eindeutige Distanzierung von der Kollektivschuldthese. Die sogenannte Singularität der Nazi-Verbrechen kann und darf deutsche Politiker nicht daran hindern, offen über die Verbrechen der anderen Ideologien und Utopien zu reden.

Deutschland hat sich jahrzehntelang mit seiner Schuld und den Verbrechen der Hitler-Diktatur auseinandergesetzt. Ihm muß es nun gestattet sein, auch über das Leiden von Deutschen zu reden. Das Vergangene der Geschichte zu überlassen, es Historikerkommissionen zu übergeben, wie es Gerhard Schröder im Verein mit seinen tschechischen Parteifreunden nahelegte, ansonsten aber sich ausschließlich der Zukunft zuzuwenden, wäre eine Flucht vor der politischen Verantwortung. Geschichtliche Altlasten sind giftig wie die verseuchten Böden. Man muß sie entsorgen. Eine derartige Umweltpolitik erfordert Mut. Der ist bei den Handelnden in Berlin nicht zu erkennen. Die deutsche Politik hat die ungelösten Konflikte, die in der Vertreibung der Deutschen aus ihren Heimatgebieten im Osten und Südosten ihre Ursachen haben, unterschätzt. Sie hatte wohl darauf spekuliert, daß sie sich auf biologischem Wege erledigen würden. Ein

Irrtum! Man bediente sich einer fadenscheinigen Doppelstrategie.

Einerseits meinte man, Polen und Tschechen mit politischen Absichtserklärungen knapp unter einem völkerrechtlich verbindlichen und regreßpflichtigen Anspruchsverzicht beruhigen zu können. Auf der anderen Seite versuchte man, die Heimatvertriebenen, immerhin ein erkleckliches Stimmenpotential, auf die Vorzüge einer Regelung in der vergrößerten Europäischen Union zu vertrösten; zu den Vertretern dieser Richtung zählt unter anderem der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber. Heute sehen wir: Beide Strategien sind gescheitert. Eine neue Bundesregierung, wie immer sie letztlich aussieht, wird mit diesem Scheitern konfrontiert werden. Man mag aus gutem Grund das Verhalten der Preußischen Treuhand problematisch nennen. Doch ist es politisch unanständig, diese Organisation für die Spannungen in den bilateralen Beziehungen alleinverantwortlich zu machen, das gilt auch für die Aktivitäten sudetendeutscher Entschädigungsinitiativen. Die Schwierigkeiten gab es auch vorher schon, zum Beispiel auch durch die Dialogverweigerung seitens der Prager Regierung. Auch Phänomene wie die umstrittene Treuhand sind nur ein Reflex der ausgebliebenen Rechtswahrung durch Bonn und später Berlin.

Noch ist unklar, wo die Belange der Heimatvertriebenen, vor allem die Förderung ihrer Kultur, künftig ressortieren werden. Wieder bei einem Kulturstaatsminister, im Bildungsministerium oder gar im Innenministerium? Dem mit viel Idealismus initiierten "Zentrum gegen Vertreibungen" droht der Stillstand. Es wird weiter als "nationales Projekt" diffamiert, seine europäische Ausrichtung ignoriert. Die SPD hat dieses polnisch-tschechische Spiel mitgespielt. Kaum anzunehmen, daß sie sich eines Besseren besinnt. Erinnerungen an die 1970er Jahre werden wach. Damals, es regierte eine sozialliberale Bundesregierung, wurde die Veröffentlichung des Berichts des Bundesarchivs über die Verbrechen während der Vertreibung verschleppt. Eine solche Darstellung sei "nicht zweck-mäßig", befand der damalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP). Die Unterdrückung dieser Fakten wurde zu einem "Akt politischer Vernunft" erklärt. Der Philosoph Jürgen Habermas be-fürchtete eine "Aufrechnungsdis-kussion". Die Geschichte wiederholt sich nicht? Partiell schon.

Rast: Ostpreußischer Flüchtlingszug auf dem Weg zur Ostsee im Januar 1945

Neues Zuhause: Flüchtlingsfamilie beim Hausbau im ostwestfälischen Espelkamp

Auf der Flucht nach Westen: Während des Zweiten Weltkrieges flüchteten Millionen Ostdeutsche vor der heranrückenden Roten Armee in die Mitte des Deutschen Reiches. Auch aus Jugoslawien kamen 250000 Personen und aus Ungarn 200000 Menschen der dort lebenden deutschen Volksgruppe. Wer nicht geflüchtet war und die letzten Kriegstage und die Nachkriegsmonate in der Heimat überlebt hatte, wurde von den Siegern in den Westen vertrieben.


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