23.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
05.11.05 / Alles nicht Wangnicken / Eine ostpreußische Schicksals-Begegnung

© Preußische Allgemeine Zeitung / 05. November 2005

Alles nicht Wangnicken
Eine ostpreußische Schicksals-Begegnung
von Astrid von Günther

Vor ein paar Jahren zog ich in ein 2200-Seelen-Dorf in Hessen und immer wenn ich mit dem Auto zu meiner Arbeitsstätte in der nächstgelegenen Kleinstadt fuhr, kam ich an einem Haus vorbei, das inmitten seiner Vorderfront ein mir vertrautes Wappen schmückte: Die Elchschaufel mit dem Preußenadler! Die handwerklich gelungene schmiedeeiserne Arbeit ziert die gelb geklinkerte Fläche in edler Zurückhaltung. "Hier muß doch ein Ostpreuße wohnen", ging es mir jedes Mal durch den Kopf - und eines Tages faßte ich den Mut, nachzufragen. Zu Fuß machte ich mich auf den Weg, klingelte an der Haustür, eine Dame mit schönen klassischen Gesichtszügen öffnete mir, ich stellte mich vor und drückte geradeheraus meine Frage aus, ob hier ein Ostpreuße wohne, denn ich stamme auch aus Ostpreußen. "Ja", sagte die Dame, "das bin ich selbst, kommen Sie doch herein." - Und so entstand eine Verbindung, die bis heute gehalten hat und die mir lieb geworden ist, ganz einfach durch eine Seelenverwandtschaft, die nicht zu erklären ist.

Alle paar Wochen besuche ich nun Frau Wallbach, eine geborene Ziel, und es bereitet mir jedes Mal viel Freude. Inzwischen kann die früher äußerst agile Dame kaum mehr das Bett verlassen, und doch ist sie immer ausgeglichen und heiter - manchmal auch wehmütig, weil wir viel über unsere Heimat sprechen. Aber die Blumen, die sie umgeben, blühen immer in verschwenderischer Pracht - eine Augenweide - kein Wunder, war sie doch Gärtnerin. Ihr schwer kriegsverwundeter Mann besaß eine kleine Gärtnerei, mit ihrem Geschick und Einsatz jedoch erweiterte sich diese zu einem ansehnlichen Gartenbaubetrieb mit Lebensmittelgeschäft, von dem noch heute in der Dorfbevölkerung die Rede ist, auch wenn es nicht mehr existiert.

"Ostpreußen - wunderbares Land meiner Kindheit, schönes Eingebettetsein in das dörfliche Leben. Einer gab dem anderen die Hand!" erzählte sie immer wieder und ich sauge alles in mich hinein. Sie erzählt von dem Dorf Wangnicken, das etwa 300 Personen umfaßte. Es war gar nichts Besonderes an dem Dorf, eine Stellmacherei gab es (Wolff), aber es war schön dort im Winter wie im Sommer! Die unendliche Weite des Landes, unterbrochen von kleinen Waldungen, darüber der hohe weite Himmel mit seinen transparenten Wölkchen, machten gottesfürchtig, weiteten Herz und Sinne. Herrlich war das Baden in der Ostsee, der weiche Strand war mit dem Fahrrad in 15 Minuten zu erreichen. Von dem Bernstein, der besonders nach einem Sturm reichlich im Tang zu finden war. Sie erzählt mir von ihrem Vater, dem die Schweinehaltung des 1000 Morgen großen Gutes Barkowski unterstellt war, daß es noch ein ähnlich großes Gut gab: Sauvant sowie drei weitere Bauernhöfe: Kecker, Pries und Wolf. Und sie erzählt von ihrer Mutter, einer sehr beliebten Frau im Dorf, die bei Geburt, Krankheit, aber auch Tod gerufen wurde und die sie bereits als vierjähriges Mädchen immer begleitete. Aber auch, daß ihre Mutter bereits mit 42 Jahren an Lungenkrebs starb, da war sie gerade elf Jahre alt, und der Vater verließ sich sehr auf sie als Älteste der Geschwister bei der Haushaltsführung.

Der nächste große Ort war Groß Kuhren, drei Kilometer entfernt, in dem es auch einen

Bäcker und einen Schlachter gab, aber man orientierte sich mehr nach Heiligencreutz, zirka zwei Kilometer entfernt. Hier gab es neben Arzt und Hebamme auch Lebensmittel, Gaststätten, die Post, die Molkerei (Familie Mantkeim) und natürlich die Schule; und ihr gegenüber die Kirche. Ja und da gerät sie ins Schwärmen und erzählt, daß hinter dem Altar ein Spruch angebracht war: Gott segne deinen Eingang und Ausgang. Die Buchstaben waren aus Moos geflochten und vielleicht so 15 Zentimeter groß. Schön muß das ausgesehen haben - ihre Augen leuchten dabei in Erinnerung. Und dann trägt sie mir aus dem Stegreif ganz flüssig vor:

Einst spülte die Ostsee ein Kreuz aus Holz,

an Samlands gesegnete Küste;

es wurde errichtet am Ufer stolz -

ein jeder mit Andacht es küßte.

Welch ein Wunder:

Am folgenden Tag stand das Kreuz

nicht mehr auf dem Hügel!

Gewandert war es über Nacht ins Land,

als wär' es getragen von Flügeln!

Dies haben als göttlichen Fingerzeig

die Gläubigen sinnig gedeutet:

Sie bauten ein Kirchlein am Orte gleich,

zum "Heiligen Creutz" es läutet!

So wurde auch das Dorf "Zum heiligen Kreuz" genannt = Heiligencreutz.

Dieses Dorf Wangnicken, nahe der Ostseeküste, in dem sie sich so geborgen fühlte, verließ sie im Sommer 1944 auf Drängen ihres damaligen Verlobten, er war Soldat. Nur vorübergehend sollten sie sich in Sicherheit bringen - nach Stolp, zur angehenden Schwiegermutter. Also reiste die Familie mit leichtem Gepäck - nur die Standuhr mußte unbedingt mit, darauf verzichtete der Vater nicht; er schulterte sie sich auf den Rücken. Ihr Vater erhielt in Stolp eine Stellung in der Stadtverwaltung, sie selbst wurde beim DRK eingestellt und hier heiratete sie - per Ferntrauung. Ihren Mann sah sie nie wieder. Im Herbst 1944 flohen sie von dort mit einem Zug westwärts, landeten in Hagen / Westfalen und lebten im Hochbunker. Bei einem Bombenangriff wurden sie dort ausgebombt. 3000 Tote waren in dieser Nacht zu zählen. Es waren Phosphorbomben: Die Häuserfassaden brannten, am Rauch erstickte man, die Schuhe klebten fest am flüssigen Phosphor! Mit nassen Decken über dem Kopf rannte auch sie mit ihrem knapp einjährigen Kind und ihrer Schwester um ihr Leben - und überlebte das Chaos. Die Stadtverwaltung wies ihr ein Zimmer an in einem beschädigten Haus: ein Raum ohne Kochgelegenheit, und zwei Wände fehlten bis in halber Höhe!

Im Lazarett lernte sie ihren zweiten Mann kennen, sie pflegte ihn als Schwester des DRK. Er nahm sie mit, als er "gesund" entlassen wurde - in sein Heimatdorf in Hessen, nahe der niedersächsischen Landesgrenze. Sie heirateten, die Familie vergrößerte sich. Sie stand ihm bei in seiner steten Krankheit und setzte ungebrochen all ihre Tatkraft für das Gartengeschäft ein. Es wurde ihr Lebensinhalt und ihr Zuhause - aber Wangnicken wurde es nicht.

Ich stehe in tiefer Bewunderung vor dieser Frau, die ungebrochen ihr Leben meistert, mit Geduld und sanfter Gelassenheit; eine Ostpreußin!

Die Fuchsschlucht an der Samlandküste


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren