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19.11.05 / Wie nah ist Neukölln an Paris? / Wenn "französische Verhältnisse" auf Deutschland übergreifen, "dann zuerst hier": Krisenstimmung in Berlins Pulverfaß

© Preußische Allgemeine Zeitung / 19. November 2005

Wie nah ist Neukölln an Paris?
Wenn "französische Verhältnisse" auf Deutschland übergreifen, "dann zuerst hier": Krisenstimmung in Berlins Pulverfaß
von Harald Fourier

Neulich während einer Taxifahrt durchs nächtliche Berlin: Meine beiden Bekannten und ich haben einige Cocktails getrunken und sind entsprechend angeheitert. Das Gespräch kommt auf die 447000 in Berlin lebenden Ausländer.

Ich berichte von einer Beobachtung in der Neuköllner Sonnenallee, in die sich "normale" Berliner kaum noch trauten - geschweige denn heimisch fühlten. "Sämtliche Geschäfte dort gehören - mit ganz wenigen Ausnahmen - zwei ausländischen Familien, den Umkalthums und den El Salams." Egal welche Branche, diese beiden Clans teilen sich dort die Straße. Orient-Cafés, Bäckereien, Obst- und Gemüsehändler, Wäschereien - sie alle sind mit einem der beiden Familiennamen versehen.

Mit gelöster Zunge poltert einer der Fahrgäste: "Den Ausländern gehört schon die halbe Stadt." Als die beiden am Alexanderplatz ausgestiegen waren, hatte ich ein ungutes Gefühl. Schließlich war unser Taxifahrer, mit dem ich noch nach Hause wollte, selbst südländischer Herkunft.

Spätestens seit dem 11. September herrscht integrationspolitischer Ausnahmezustand. Wo einst zukunftsfroh die multikulturelle Gesellschaft gefeiert wurde, dominieren jetzt Bilder von Haßpredigern, Intensivtätern und Berichte über Moschee-Neubauten, die in deutschen Städten wie die Pilze aus dem Boden zu schießen scheinen.

Wie jeder tote Vogel gleich als Herannahen der Vogelgrippe interpretiert wurde, so wird jetzt das Näherkommen der Einschläge aufmerksam verfolgt. Die Anschläge von Madrid, der Mord an Theo van Gogh in Amsterdam, die Bombenattentate von London, die Bilder von Schwarzafrikanern, die wie in Scharen über die Zäune der spanischen Exklaven an der afrikanischen Mittelmeerküste strömen - nun die wilden Randalierer in den französischen Vorstädten. Es braut sich etwas zusammen, so die untergründige Stimmung. "Mobile.de", das Automotor-Magazin auf Sat 1, beschäftigte sich vergangenen Sonntag ausgerechnet mit brennenden Autos ("Wer entsorgt den Schrott, wenn morgens der Wagen nur noch ein qualmender Schrotthaufen ist?"). Wann entlädt sich das angespannte Verhältnis zwischen Einheimischen und Zugewanderten bei uns? - so die bange Frage, die sich viele stellen. Und wo?

Heinz Buschkowsky, SPD-Bürgermeister des Berliner Problemstadtteils Neukölln, weiß die Antwort, sagt er. Für ihn steht fest: Wenn die Situation eskaliert, dann in seinem Kiez. Vergangene Woche war er der meistgefragte Kommunalpolitiker Deutschlands. Er durfte sogar im ZDF-Frühstücksfernsehen auftreten. Für einen Bezirksbürgermeister bedeutet das Hochkonjunktur.

Wenn der 57jährige aus seinem Büro im ersten Stock des Neuköllner Rathauses auf die Hermannstraße schaut, dann sieht er eine Welt, die noch in Ordnung scheint. Einkaufszentren, noble Geschäfte, Schnellrestaurants - Neuköllns Prachtboulevard gibt ein besseres Bild ab als der restliche Norden des Stadtteils.

Doch unweit der strahlenden Fassade verbirgt sich eine fremde Welt, die Parallelwelt der Ausländer - meist Türken und Araber. Es ist eine Welt, die sich hinter verschlossenen Türen von Wohnungen und Gebetshäusern abspielt, und die die Deutschen nur selten zu Gesicht bekommen.

Buschkowsky hat sich und seinen Bediensteten die Lektüre des Buchs "Der Islam - Im Spannungsfeld von Religion und Dialog" verordnet. Für einen sozialdemokratischen Bürgermeister in einem Bezirk der Atheisten-Metropole Berlin muß sich Buschkowsky sehr viel mit Religion beschäftigen.

Ein Redner auf einer Tagung über den EU-Beitritt der Türkei in Berlin hat es Anfang Oktober einmal so formuliert: "Wenn Sie den Haß, der einem als Deutscher zuweilen entgegenschlägt, einmal erleben wollen, dann fahren Sie mal mit den Berliner U-Bahnlinien 7, 8 oder 9."

Die Linie 7 hält auch am Rathaus Neukölln. Nur wenige Schritte von dort entfernt liegt das Rollberg-Viertel, eine typische "No-go-area", wie die Amerikaner sagen würden: eine Gegend, die man zur eigenen Sicherheit besser meidet. Nebenan ist gleich eine Polizeistation. Die wird dringend gebraucht und hat gute Chancen, eines nicht allzu fernen Tages die legendäre Davidwache in Hamburg-St. Pauli als bekanntestes Revier Deutschlands abzulösen.

2003 wurde beim Einsatz im Rollbergviertel ein junger Polizist von einem Bewohner namens Yassin Ali-K. erschossen. Der Libanese war zuvor in eine Messerstecherei mit Todesfolge verwickelt gewesen und sollte verhaftet werden.

Die Einwanderer sind im Rollbergviertel klar in der Mehrheit - das zeigen schon die Satellitenschüsseln an den Hauswänden oder ein flüchtiger Blick auf die Klingelschilder. Und Bezieher von staatlichen Transferleistungen wie Arbeitslosengeld II haben die regulär arbeitende Bevölkerung zahlenmäßig ebenfalls längst hinter sich gelassen.

Es sind solche sozialen Brennpunkte, über die Buschkowsky spricht, wenn er sagt: "Paris ist das Schlüsselloch, durch das hindurch wir in die Zukunft Berlins schauen können." Die Probleme seien die gleichen, deutet er an, wenn auch noch nicht in denselben Ausmaßen. Genug Autos und Mülltonnen gibt es in Berlin allemal. Wenn es so weitergeht wie bisher, dann werden auch sie eines Tages brennen. Das ist die Botschaft von Heinz Buschkowsky.

Der Sozialdemokrat hat sich so pragmatisch von der Utopie einer glückseligen Multikulturalität losgesagt, wie dies nur Lokalpolitiker können. Das gilt offenbar auch für ihren Umgang mit Arbeitslosigkeit und Kriminalität, Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit nachwachsender Ausländergenerationen, dem Treibsatz der Randale von Paris. Die nüchterne Bilanz lautet: Das meiste, was wir bisher gemacht haben, hat nichts genutzt.

Die rot-grünen Konzepte zur Integration scheinen ins Leere zu laufen. Beispiel "Doppelte Staatsbürgerschaft": Als hätten sie das Rad neu erfunden, freuten sich Rote und Grüne, als sie 1999 das Staatsbürgerschaftsrecht an "die Erfordernisse der Gegenwart" angepaßt haben. Indes: Die Randalierer in Paris sind allesamt Franzosen, weil in jenem Land schon seit Hunderten von Jahren das "Bodenrecht" gilt (wer auf französischem Boden geboren wird, besitzt die volle Staatsbürgerschaft - mit allen Rechten).

Und auch der Spracherwerb ist zwar wichtig, aber mitnichten der Schlüssel zur Lösung des gesamten Problems. Die Randalierer von Paris haben in der Regel bessere Sprachkenntnisse als Zuwanderer in Deutschland.

Inzwischen wird über Sprach-eingangstests in Schulen und die Pflicht zum Aneignen der deutschen Sprache gesprochen, als seien sie das Allheilmittel. Diese Maßnahmen läßt sich die Politik eine Menge kosten. Allein 16 Projekte gibt es nur im Rollbergviertel. Eines der bekannteren und auch vielversprechenden ist Madonna, primär ein Mädchentreff. In der Beschreibung des Programms heißt es über sie: "Sie wissen oft nicht, was sie wollen und wie sie es erreichen, sind ziellos und unfähig sich zu organisieren, gerade wenn es um die eigenen beruflichen Vorstellungen geht. Außerdem mangelt es vielen an Ausdrucksvermögen in der deutschen Sprache, um sich bei Bewerbungsgesprächen Anderen zu präsentieren und für sich zu werben." Wozu haben sie eigentlich eine deutsche Schule besucht, fragt sich der Leser?

Daß Madonna junge Ausländerinnen zu Bildung und Selbständigkeit ermutigen will, macht die Einrichtung nicht bei allen beliebt. "Dafür hassen die Ausländer hier Madonna", meint sogar ein Neuköllner Lokalpolitiker. Viele Frauen werden von ihren Familien aus der Türkei nach Deutschland geholt, um hier zwangsverheiratet zu werden. "Terres des Sommes" fürchtet, jede zweite Ehe komme auf familiären Druck hin zustande.

In Berlin ereigneten sich in den letzten Monaten eine Reihe von spektakulären "Ritualmorden" an jungen Frauen ausländischer Herkunft, die sich westlichem Lebensstil geöffneten hatten. Die Familienehre muß aufrecht erhalten werden, selbst wenn dafür Blut fließt. Diese Einstellung wird in gewissen Kreisen offen propagiert. So sagte in einer TV-Reportage über "Madonna" ein junger Orientale offen vor der Kamera, wenn seine Schwester mit einem Deutschen anbändele, töte er sie.

So entlädt sich der Zorn der Zugewanderten, die sich ausgegrenzt und materiell benachteiligt fühlen, zunächst noch untereinander. In der eigenen Familie, im eigenen Ghetto. In Birmingham gab es kurz vor Paris Ausschreitungen zwischen pakistanischen und karibischen Zuwanderern.

Diese Entwicklung ist auch bei uns denkbar. Die eingangs geschilderte Szene im Fahrzeug des südländischen Taxifahrers ging ja noch weiter: Nachdem ich allein mit ihm war, drehte sich der Fahrer um: "Du - weißt du - was du da über die Umkalthums und El Salams gesagt hast ..." "ja?", fragte ich zurück, "das stimmt alles. Ich sehe das genau so, ich bin nämlich Türke. Die Umkalthums und El Salams sind alle Araber. Wir hassen die."

Die "Umverteilung", mit der in der alten Bundesrepublik alle gesellschaftlichen Konflikte über Jahrzehnte hinweg gelöst wurden, funktioniert nicht mehr. In Neukölln schon gar nicht. "Der soziale Friede in Deutschland wird erkauft", sagte Buschkowsky der "Netzeitung". Doch was passiert, wenn das Geld alle ist?

Abseits der geschäftigen Hermannstraße sieht das Bild nicht gut aus. Die einzige Branche, die hier zu blühen scheint, ist die der Wettbüros. Viele dieser Läden, hinter deren Milchglasscheiben angeblich Fußballwetten vereinbart werden, gelten als Geldwaschanlagen, wenn man Polizeiinsidern glaubt. So funktioniert die Parallelwelt: Geschäfte werden schwarz getätigt, das Geld hinterher - je nach Bedarf - in den "legalen" Wirtschaftskreislauf zurückgeschleust.

Der "legale Wirtschaftskreislauf" - das sind in Neukölln Firmen wie Berliner Kindl, eine 133 Jahre alte Brauerei. Das Unternehmen ist nicht zuletzt wegen der Einführung des Dosenpfands in Schwierigkeiten geraten und gab Anfang des Jahres bekannt, den Standort an der Rollbergstraße mit seinen zuletzt noch 250 Beschäftigten zu schließen. Ein Erdbeben für Neukölln, urteilte Buschkowsky damals.

Die Parallelwelt bietet alles: Türkische Fußballfans feiern in Berlin ihre eigenen Mannschaften


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