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19.11.05 / Magischer Bezirk - mystisches Heiligtum / Bei einem Besuch des jüdischen Friedhofs im badischen Sulzburg geben stumme Zeugen beredt Auskunft

© Preußische Allgemeine Zeitung / 19. November 2005

Magischer Bezirk - mystisches Heiligtum
Bei einem Besuch des jüdischen Friedhofs im badischen Sulzburg geben stumme Zeugen beredt Auskunft
von Esther Knorr-Anders

Ein seltsam anmutendes Gemälde schuf Arnold Böcklin (1827-1901) mit seinem "Heiligen Hain". Gäbe es den Hain wirklich, kein Mensch würde es wagen, sich ihm zu nähern, geschweige denn ihn zu betreten. Er müßte an zwei hohen, magisch glimmenden Kultgefäßen vorbei, zwischen denen das mythische, schlohweiße Einhorn ruht. Und dann? Dann befände er sich wahrscheinlich an einem Ort, von dem kein Weg zurückführt.

Genau dieses Gemälde drängt sich in die Erinnerung, wenn man den "Jüdischen Friedhof" im badischen Sulzburg schildern will. Wie von Geisterhand gewobene Einsamkeit herrscht im weiten, wildnishaften Areal. In vermoderndem Laub schimmern die Grabsteine als Zeugen der Vergangenheit. Viele ragen aufgerichtet aus den Gräberfeldern, viele sind abgesunken, manche neigen sich beim Sinken einander zu. Eine gestürzte Birke hob einen Stein aus dem Boden.

Eine Vielzahl der Steine weist hebräische, aber auch deutsche Inschriften auf. Es sind stumme Zeugen. Stumm? Nein, sie sprechen! Und selbst jene Steine, die nie aufgestellt wurden, weil die Menschen, die unter ihnen hätten Ruhe finden sollen, weit außerhalb Sulzburgs getötet worden waren, legen Zeugnis durch ihr Fehlen ab. Alle zusammen, sichtbare wie unsichtbare Steine, erzählen die Geschichte der Sulzburger Juden.

Erstmals wurde dieser jüdische Friedhof Mitte des 17. Jahrhunderts urkundlich erwähnt. Im November 1825 legte Sulzburgs Bürgermeister Christoph Ludwig Sexauer eine sogenannte "Seelentabelle" an, also eine frühe "Bevölkerungsstatistik". Dazu schlüsselt Jost Grosspietsch in einem Beitrag der von der Freien Künstlergruppe Freiburg 1990 herausgegebenen Broschüre über den Sulzburger "Jüdischen Friedhof" auf, daß Bürgermeister Sexauer "661 evangelische, 60 katholische und 207 mosaische Sulzburger" zählte. "Für das folgende Jahr lautet seine Seelentabelle: 650 evangelische, 60 katholische und 229 mosaische Sulzburger. Summarum der ganzen Seelenzahl: 937. "

Wie kamen Christen und Juden in Sulzburg miteinander aus? Gut! Schriftsteller Peter Huchel, der 1925 und dann noch einmal 1973 Sulzburg besuchte, schrieb darüber: "Seit Generationen haben Juden hier in Sulzburg gelebt; Viehhändler, sie kannten jeden Bauern in der Umgebung, seinen Viehbestand; Weinhändler, sie fuhren schon im Sommer zu den Weinbergen, um die Ernte zu kaufen; Brotbäcker, sie holten das Wasser vom Brunnen, das man zum Anrühren des Teiges brauchte, Holz und Reisig aus dem Wald, um die richtige Backwärme im Ofen zu haben; Hausierer, die Tragekiepe auf dem Rücken, mit allerlei Kleinkram bepackt, Schnürsenkel, Nähgarn und Bänder, Kräutertee, Streichhölzer und Kerzen, Mäusefallen und Filzpantoffeln. Von Haus zu Haus zogen sie durch die Dörfer, meist waren sie sechs Tage unterwegs, um dann zum Sabbat zurückzukehren. Seit Generationen - schon im 13. Jahrhundert nennt sie eine Chronik in Sulzburg ansässig - immer eifrig bemüht, für die Zukunft von Kind und Kindes-kindern zu sorgen und sie finanziell gegen alle unvorhergesehenen Zeitläufte sicherzustellen."

Über ihre Handelstätigkeiten hinaus entdeckten die Juden um 1890 den Wert Sulzburgs als Ferienort: "In einem freundlichen Tale des südlichen Schwarzwaldes liegt das romantische Städtchen Sulzburg, rings umgeben von üppigen Thannenwaldungen ..." Mit diesem Locksatz begann eine Anzeige in der damaligen Sulzburger Tageszeitung "Kastellberger Bote", mit der um Feriengäste für den "Luftkurort" geworben wurde. Weiter hieß es: "Unser aufrichtiges Bestreben wird sein, den sich Anmeldenden den Aufenthalt dahier so angenehm wie möglich zu machen und wissen wir uns darin einig mit der christlichen Bevölkerung, mit welcher wir in bestem Einvernehmen stehen." Selbstverständlich existierte auch ein jüdisches Gasthaus mit dem im Süden Deutschlands nicht seltenen Namen "Wilder Mann", einer Sagengestalt.

Doch der Frieden hielt nicht ewig; das "beste Einvernehmen" zwischen Christen und Juden fiel sukzessive der Vergangenheit anheim. Im Frühjahr 1933 erschien ein Artikel in der nationalsozialistischen Parteizeitung "Alemann", in dem angesehene Juden Sulzburgs diffamiert wurden. In der Nacht des Novemberpogroms 1938 (Reichskristallnacht) ging mehr als Kristall zu Bruch, nämlich der Glaube jüdischer Bürger an den Anstand deutscher Bürger. In Sulzburgs Straßen wurde geplündert, Hausrat zertrümmert, die Synagoge zerstört, der Friedhof geschändet. In den Folgejahren eskalierte das Grauen - bis die jüdische Gemeinde aufhörte zu existieren. Aber nicht das Gedenken an sie. Auf dem Friedhof findet man unterhalb der Terrassen einen Gedenkstein, den verstreut lebende Juden 1970 errichten ließen. Er erinnert an die vertriebenen und getöteten Glaubensgefährten.

Die Gräber ihrer Angehörigen sind den Juden heilig. Das erklärt ihr strenges Gebot, niemals die Totenruhe zu stören. Symbolisch steht der Grabstein, wie jeder Stein, für die Ewigkeit. Umgesunkene Grabsteine bleiben liegen und eines Tages nimmt die Erde sie zu sich zurück. Dort bleiben sie für immer, denn jüdische Grabfelder werden nie ausgehoben, neu belegt oder gar profanen Zwecken, wie zum Beispiel einer Bebauung zugeführt. Ein Friedhof ist magischer Bezirk, mystisches Heiligtum, wo der Geist der Verstorbenen gegenwärtig bleibt. Berücksichtigt man diesen jüdischen Glaubensstandpunkt, dann wird verständlich, warum es zu Protesten kam, als 1973 in unmittelbarer Nähe des Friedhofs ein Campingplatz, der vom Sulzbach durchflossen wird, angelegt wurde. Sanitäre Anlagen entstanden, Beschilderungen, kurz alles, was für einen komfortablen Zeltplatz als notwendig erachtet wird. Und dann kamen die Wohnwagen-Urlauber. Es wird nicht immer geräuschlos zugegangen sein. Aber es bleibt die Frage, ob es die Toten wirklich stört, wenn Stimmen zum Friedhof herüberschallen, Lachen und Kinderrufe hörbar werden. Wir wissen es nicht. Realität ist, daß der Campingplatz noch heute besteht und der Friedhof geheimnisvolle Ruhe verströmt.

Die ältesten jüdischen Grabsteine fielen durch Schmucklosigkeit auf, sie enthielten nur die Inschrift in hebräischer Sprache. Das änderte sich im Laufe der Jahrhunderte, weil die Assimilation der Juden innerhalb ihres christlichen Umfelds fortschritt. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden auch deutschsprachige Inschriften in die Steine gemeißelt, Ornamente verwendet, jüdische und nichtjüdische Symbole dargestellt. Bei den jüdischen Symbolen ist die "Levitenkanne" (Kanne der Priester) beeindruckend. Sie darf vom Steinmetz frei gestaltet werden; hingegen ist die Fingerhaltung bei der Darstellung segnender Priesterhände strikt vorgeschrieben. Ein Doppelgrab von 1904 / 05 zeigt die ineinandergreifenden Hände eines Ehepaares. Ein Frauengrab von 1878 trägt eine Halbreliefschale mit herabhängenden Girlandenflechten. Die Grabstätten von Rabbinern ziert ein Buch, Zeichen der Gelehrsamkeit. Auf der dritten Terrasse des Friedhofs, rechts vom Eingang, fesseln Gedenksteine aus den Jahren 1928 bis 1938 den Blick. Und da haben wir ihn, den sechseckigen Davidstern, auch "Schild Davids" genannt, höchstes religiöses Symbol der Juden.

Magie und Einsamkeit! Auffallende Schlichtheit auf Sulzburgs jüdischem Friedhof. Monumentale Grabmäler wurden vermieden. So entsteht der Eindruck der Gleichheit aller Schlafenden. Juden und Christen - in einer Erkenntnis dürften sie zusammenfinden: "Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre."

Der jüdische Friedhof in Sulzburg: Die Gestaltung fällt durch ihre Schlichtheit auf. Foto: Knorr-Anders


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