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19.11.05 / Das sanfte Licht / Eine Betrachtung zum November und zum Totengedenken

© Preußische Allgemeine Zeitung / 19. November 2005

Das sanfte Licht
Eine Betrachtung zum November und zum Totengedenken
von Gabriele Lins

Die Mutter schlief fest, als Annette das Krankenzimmer betrat. Leise packte sie die Weintrauben aus, drapierte sie künstlerisch mit den beiden Apfelsinen auf der mitgebrachten Schale und setzte sich dann neben das Bett. Hoffentlich wacht sie bald auf, dachte die Tochter, denn sie hatte wenig Zeit; zu Hause türmte sich die Wäsche, und ihr Mann wollte seinen täglichen Spaziergang mit ihr machen. In letzter Zeit schlief Annettes Mutter viel; ihre Krebskrankheit nahm sie sehr mit, und nun war sie auch noch im Seniorenheim auf einem Läufer ausgerutscht und hatte sich den Oberschenkelhals gebrochen. "In einer Woche geht sie wieder wie ein junges Mädchen, und ihren Krebs haben wir auch im Griff", versicherte der Arzt, der die Mutter operiert hatte.

Die Kranke bewegte sich, setzte sich plötzlich ohne Hilfe auf, öffnete die Augen weit und heftete den Blick auf die weiß getünchte Wand vor sich. Eine Weile blieb sie in dieser Stellung. Ihr Gesicht war angespannt, die Augen wurden noch größer, dann hob sie die Arme und sagte klar und deutlich: "Ja", und Sekunden später: "Ich komme!" Dann sank sie auf ihr Lager zurück und schlief weiter. Auf ihrem Gesicht lag ein so friedliches Lächeln, daß Annette mit den Tränen kämpfte. Als sie mit ihrem intensiven Augenabtupfen fertig war, bemerkte sie ein sanftes Licht über dem Bett ihrer Mutter. Es breitete sich wie eine Wolke über ihrem schmalen Körper aus, hüllte sie bis zum Kopf ein, wurde schwächer und verschwand schließlich ganz.

Zurück blieb ein intensiver Duft, der ein Glücksgefühl in Annette wach rief, als sie ihn tief einsog. In diesem Augenblick hätte sie tanzen mögen. Aber die euphorische Stimmung hielt nur so lange an, bis die Mutter erwachte. Die war wie immer, freute sich über die Anwesenheit der Tochter und wollte Verschiedenes über ihr Zuhause wissen. Annette fragte sie, ob sie einen schönen Traum gehabt hätte. "Erzähle mir doch, wem du begegnet bist, Mutter", sagte sie, "du hast im Schlaf so glücklich ausgesehen." Die Kranke schüttelte den Kopf. Sie schien nichts geträumt zu haben. Aber Annette war fest davon überzeugt, daß ihre Mutter etwas erlebt hatte, das nur denen vorbehalten ist, die an der Schwelle zu einem anderen Leben stehen.

Einen Tag später starb ihre Mutter. Als der Sarg langsam in die Grube gelassen wurde, bemerkte Annette wieder das sanfte Licht, das über dem Bett der Kranken geschwebt hatte. Es verweilte einen Augenblick auf dem Sarg, erhob sich wieder und verschwand langsam hinter den Bäumen. Auch dieses Mal schien die Sonne nicht. Den Umstehenden blieb diese Erscheinung wohl verborgen, denn niemand machte einen erschrockenen oder überraschten Eindruck.

Das sanfte Licht. War es die Seele ihrer Mutter? Gott will mir sicher sagen, daß sie nun in guten Händen ist, dachte Annette und fühlte sich getröstet.


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