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26.11.05 / Deutsche Seelenverfassung als Schlüssel / Werke Thomas Manns offenbaren viel über die Stimmung des Bürgertums in der Zwischenkriegszeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / 26. November 2005

Deutsche Seelenverfassung als Schlüssel
Werke Thomas Manns offenbaren viel über die Stimmung des Bürgertums in der Zwischenkriegszeit

Wie es möglich war, daß sich die Deutschen, ein großes Kulturvolk, in die faschistische Barbarei stürzen konnten, diese, für die gesamte zivilisierte Welt und ihre Fähigkeit zu nachhaltiger Selbstkritik aufschlußgebende Frage läßt Professor Rohrmoser von Thomas Mann beantworten, der sich als maßgebender Repräsentant der bürgerlichen Kultur verstand. In Rohrmosers kürzlich erschienenen Buch mit dem auf die Antwort zur Kernfrage hindeutenden Titel "Dekadenz und Apokalypse" verdeutlicht Günter Rohrmoser anhand der Fülle von Gleichnissen aus dem Handlungsablauf der Romane "Der Zauberberg" und "Dr. Faustus" die schon im ersten Drittel des vorigen Jahrhundert weit fortgeschrittene Dekadenz und damit auch Machtlosigkeit des Bürgertums, das im Jahrhundert zuvor Politik, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft noch entscheidend prägte.

Selten ist wohl die europäische, nicht nur die deutsche Seelenverfassung und geistige Problematik, auch als Schlüssel zum besseren Verständnis von Geist und Ideologien in der Weimarer Republik, so eindringlich dargestellt worden wie gerade im "Zauberberg" und im "Dr. Faustus".

In den Gesprächen und durch das Verhalten der Romanfiguren stellt Thomas Mann ein Bild über die geistige Verfassung der Zwischenkriegszeit vor. Er beschreibt die Genese des Bruches mit der Zivilisation, von dem man nicht weiß, ob er heute wirklich überwunden ist. Wenn einen die Sinnlosigkeit anstarrt, verfallen Antriebskräfte, sich selbst in den Dienst einer Aufgabe, einer Idee zu stellen, um derentwillen es sich lohnt, mehr zu tun, als ökonomisch sinnvoll ist. Wenn eine Gesellschaft ihrer Jugend keine Antwort auf die Sinnfrage geben kann, dann schlägt sie aus und wird wild. Nicht nur die Jugend ist von der Sinnlosigkeit betroffen, auch die gesellschaftlichen Eliten, nicht nur die deutschen, sind von dem Unsinn als Folge der unbeantworteten Sinnfrage angesteckt.

Das galt damals und gilt heute genau so. Hier werden die tieferen Ursachen erkennbar, daß es 1933 zu dieser Wende, diesem Bruch mit der kulturellen Tradition kam, weil da eben einer auftrat, der den Eindruck vermittelte, er wüßte eine Antwort auf diese Frage. Wenn Thomas Mann den Verfall des Bürgertums am Anfang des 20. Jahrhunderts beschreibt, so sind doch die Debatten seiner Hauptfiguren von bleibender Aktualität. Bis hin zur Umfunktionierung der Psychoanalyse durch die 68er Kulturrevolution, als Emanzipation von den Zwängen bürgerlicher Sittlichkeit als Freiheit interpretiert wurde. Man lernt noch einiges mehr über die Entleerung oder die totale Mißdeutung des Begriffs "Freiheit". Die Masse glaubt schließlich alles, aber sie liebt die Freiheit. Wenn man also den Menschen den Zwang schmackhaft machen will, muß man ihn auf den Namen "Freiheit" umtaufen.

Die geschichtlichen Abläufe kennen wir, den Untergang der Weimarer Republik, die Barbarei der Nationalsozialisten, das Sterben des Deutschen Reiches. Einen wesentlichen Teil der Antwort auf die eingangs gestellte Frage gibt Thomas Mann: Der Verfall des Bürgertums, weg vom Citoyen, hin zum reinen Bourgeois, führt in die Apokalypse.

Kunst, Theologie und Krankheit, Schlüsselthemen in "Dr. Faustus", erweitern den Spielraum der Gleichnisse, mit denen Thomas Mann deutet und warnt. Die in Demokratien grassierende Politisierung aller Lebensbereiche lehnt Thomas Mann ab. Er verteidigt den Raum für eigenes Weltverständnis, Innerlichkeit und Tiefe für das Individuum, für die Persönlichkeit. Der Erfolg blieb aus, denn die totale Aufhebung des Seins des Einzelnen in die Totalität der um sich selbst kreisenden und sich selbst produzierenden Gesellschaft ist heute zum selbstverordneten Lebensprogramm fast eines jeden geworden. Das Pendeln der Deutschen zwischen den Extremen der Weltscheu und aggressivem Zugreifen fast imperialen Charakters, das Torkeln von einer Maßlosigkeit zur anderen, das legt die Vermutung nahe, die ganze böse Erfahrung mit dem Nationalsozialismus sei umsonst gewesen. Denn am Zug zur Maßlosigkeit hat sich nichts geändert.

Aus der doppelten Besetztheit des deutschen Geistes und Gemüts, aus dem Versinken in die brodelnde Irrationalität und dem rationalen Willen, sich die "Welt" zu unterwerfen, spricht nun Thomas Mann von der Dämonie der Deutschen. Vielleicht war deshalb das deutsche Volk so empfänglich für eine dämonische Gestalt wie Adolf Hitler?

In "Dr. Faustus" spielt die Musik eine Rolle bei der Lösung von Erkenntnisproblemen. Auch in Verbindung mit Religion. Günter Rohrmoser zitiert hier Goethe, der gesagt hat: "Die Musik von Johann Sebastian Bach teile uns in Tönen mit, was in Gottes Busen vor sich ging, bevor er die Welt geschaffen hatte." Auch Karl Barth, einer der größten Theologen des 20. Jahrhunderts, kommt zu Wort. Für ihn ist Mozart die eigentliche Theologie. Seine Musik Preis der Herrlichkeit und Macht Gottes, wie er im Gesang der Engel ertönt.

Es ließe sich noch vieles sagen, um das grandiose Szenario anzudeuten, das Thomas Mann in den beiden Romanen vorgestellt hat. Nicht fehlen sollte aber eine Schlußfolgerung, die Günter Rohrmoser so formuliert: Thomas Mann sieht den Grund und die Genesis unserer Kulturkatastrophe in der Emanzipation von der Religion, so wie jede Kultur in der Befreiung von ihrer religiösen Herkunft entweder in Sterilität endet, von der Dekadenz überwältigt wird oder zerstörerische Mächte freisetzt, durch die sie dann vernichtet wird. L. Schmidt

Günther Rohrmoser: "Dekadenz und Apokalypse", Gesellschaft für Kulturwissenschaft, Bietigheim / Baden 2005, kartoniert, 243 Seiten, 18 Euro


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