25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
10.12.05 / Wunschzettel / Klavier oder Pferd – was darf’s sein?

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. Dezember 2005

Wunschzettel
Klavier oder Pferd – was darf’s sein?

Tante Ingrid setzte sich an den liebevoll gedeckten Kaffeetisch, balancierte ein Stück Nußtorte auf ihren Teller und wandte sich an meine Tochter. „Was soll das Christkind dir denn bringen?“

Lisa stellte ihre Kakaotasse auf die weiße Tischdecke und sagte laut und bestimmt: „Ein Klavier!“

Tante Ingrid sah meine Tochter erstaunt an. „Ein Klavier?“

„Gestern war es noch ein Fahrrad“, sagte ich beiläufig und beobachtete den dicken Kakaotropfen, der langsam an Lisas Tasse hinunter lief und sich unweigerlich der blütenweißen Tischdecke näherte.

„Was um alles in der Welt willst du mit einem Klavier?“

Lisa stopfte sich ein großes Stück Torte in den Mund.

„Darauf spielen, Tante Ingrid ...“ Ich starrte immer noch wie gebannt auf den Kakaotropfen.

„Lisa, deine Tasse …” Zu spät, gerade wurde der dicke, braune Tropfen gierig von der Tischdecke aufgesogen.

„Oh“, murmelte Lisa und wischte mit der Hand über den Kakaofleck.

In genau sechs Wochen war Weihnachten und es gab in unserer Familie nur noch ein Gesprächsthema: Lisas Wunschzettel. Gestern hatte sie erklärt, ihr sehnlichster Wunsch wäre ein neues Fahrrad. Und zwar eines mit Alu-V-Bremsen und Halogen-Scheinwerfern. Wehmütig dachte ich an einen kleinen roten Gebrauchtwagen, den ich bei unserem Autohändler gesehen hatte. Ich brauchte dringend ein neues Auto. Aber mir war natürlich klar, ein Fahrrad war wichtiger.

„Du mußt Unterricht nehmen“, bemerkte ich skeptisch.

„Ich habe bei Sarah schon oft gespielt.“

Tante Ingrid kam mir zu Hilfe. „Spielst du nach Noten oder nur mit zwei Fingern?“

Lisa rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Das Thema wurde ihr unangenehm. „Ist doch egal, ich kann Klavier spielen und will ein Klavier, so!“ Energisch stand sie auf, knallte die Tür hinter sich zu und ging schmollend in ihr Zimmer. Tante Ingrid zog ein Gesicht, als ob sie auf ein Pfefferkorn gebissen hätte, und sah mich vorwurfsvoll an.

„Lisa ist in einem schwierigen Alter, man sollte das nicht so ernst nehmen.“

Mir war der Auftritt meiner Tochter äußerst unangenehm und ich wollte retten, was noch zu retten war.

Tante Ingrid rührte in ihrer Tasse und sah mich voller Zweifel an. „Ich finde, sie tanzt dir auf der Nase herum.“

„Glaub mir, Lisa meint das nicht so.“

Tante Ingrid ließ nicht locker. „Natürlich meint sie es so. Du verwöhnst sie, wenn du ihr jeden Wunsch erfüllst. Weiß das Mädchen eigentlich, was ein Klavier kostet?“

„Nein, Tante Ingrid, sie weiß nicht, was ein Klavier kostet. Aber sie ist musikalisch sehr begabt, vielleicht sollte sie wirklich Unterricht nehmen?“

Tante Ingrid saß kopfschüttelnd auf ihrem Stuhl. „Auch Klavierunterricht ist sehr teuer, außerdem nützt der Unterricht wenig, wenn sie zu Hause keine Möglichkeit hat Klavier zu spielen.“

„Man kann auch gebrauchte Klaviere kaufen.“

So langsam wurde auch mir diese Unterhaltung unangenehm. Tante Ingrid rührte noch immer in ihrer Kaffeetasse und schielte mit einem Auge auf das letzte Stück Nußtorte.

„Ich hätte als Kind auch gerne ein Klavier gehabt“, sagte ich leise. „Meine Eltern haben mich nicht ernst genommen, als ich den Wunsch äußerte. Ich werde nie vergessen, wie groß meine Enttäuschung war, als am Heiligen Abend nur eine neue Winterjacke unter dem Tannenbaum lag. Man soll die Talente seiner Kindern fördern, und Lisa ist begabt.“ Ich wischte eine kleine Träne aus meinen Augenwinkeln und schenkte mir frischen Kaffee ein.

Tante Ingrid seufzte. „Vielleicht solltest du ihr eine Blockflöte schenken.“

„Eine Blockflöte? Das ist nicht dein Ernst?“

Ingrid stand auf und ging zur Garderobe. „Es wird Zeit für mich. Grüß Lisa von mir.“

Bedrückt ging ich ins Wohnzimmer zurück. Vielleicht hatte Tante Ingrid recht. Man darf Kindern wirklich nicht jeden Wunsch erfüllen. Sie müssen auch lernen zu verzichten.

Außerdem brauchte ich wirklich dringend ein Auto. Doch plötzlich dachte ich wieder daran, wie sehr ich heimlich geweint hatte, als das ersehnte Klavier am Weihnachtsabend nicht in der Stube stand. Nein, diese Enttäuschung wollte ich meiner Tochter ersparen. Sie würde ihr Klavier bekommen und wenn ich dafür den Rest meines Lebens Fahrrad fahren müßte.

Das Telefon riß mich aus meinen Gedanken. Es klingelte laut und ungeduldig.

Die Zimmertür flog auf und meine Tochter rannte mit der Bemerkung „ist für mich ...“ an den Apparat.

„Hallo Oma“, rief Lisa fröhlich ins Telefon, „was ich mir vom Christkind wünsche, willst du wissen, hmm, ein Pferd!“

"Ich hätte als Kind auch gern ein Klavier gehabt"


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren