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17.12.05 / "Moment mal!" / "Du bist Hitler" oder die verbotene Trauer

© Preußische Allgemeine Zeitung / 17. Dezember 2005

"Moment mal!"
"Du bist Hitler" oder die verbotene Trauer
von Klaus Rainer Röhl

Ganze 60 Jahre lang haben wir die Massenaustreibung der Deutschen aus einem Drittel ihres Landes nicht thematisieren dürfen, die Trauer über zwei Millionen tote Vertriebene, meist Frauen, Kinder und Greise, und das Erinnern an die deutschen Ostprovinzen war im kommunistischen Osten verboten – in der Bundesrepublik verpönt. Seit 1968 hießen die Vertriebenen nur Ewiggestrige, über deren Wünsche nach einer Gedenkstätte und einem „Zentrum gegen die Vertreibung“ man sich hinwegsetzte. Statt dessen gab die rot-grüne Regierung eine Ausstellung im Bonner „Haus der Geschichte“ in Auftrag, in der die Vertreibungsverbrechen und Greuel, die bei der Austreibung von fast 15 Millionen Deutschen aus ihrer Heimat geschahen. Aber auch jetzt, da wir zum ersten Mal eine Ausstellung über die Vertreibung sehen dürfen, sollen wir auch nicht gleich trauern, sondern erst einmal alles berücksichtigen, was die Vertreibung erklärt. Der Krieg Hitlers und die NS-Verbrechen. Verbrechen gegen Verbrechen. Ist das nicht genau das, was den Vertriebenen immer vorgeworfen wird: Relativierung? Trauer nur unter dem Vorbehalt unserer Bußfertigkeit und Selbstanklage? Du bist Hitler.

Statt zu trauern, sollten wir nach 60 Jahren einen Beitrag zur europäischen Völkerverständigung leisten sowie den Polen und Tschechen die Hand zur Versöhnung reichen. Das klingt so, als hätte es die Charta der Vertriebenen von 1950 nie gegeben, in der genau das mustergültig und für alle Zeiten aufgeschrieben stand: der Verzicht auf jede Gewalt und der Wunsch nach Versöhnung. Wenn wir die Wahrheit über die Geschichte der Vertreibung herausfinden sollen, muß uns erlaubt sein, auch die ganze Wahrheit auszusprechen, ohne uns sofort bei der polnischen oder tschechischen Botschaft zu entschuldigen. Und die Wahrheit ist konkret. Sie besteht aus lauter Einzelschicksalen, die nicht auf den Tonbändern der Ausstellung erzählt werden. Als meine Großmutter 1948 an dem ersten deutschen Grenzbahnhof ankam, hatte sie nicht einmal mehr Schuhe, eine leere Kunststoff-Handtasche und kein Gepäck, sondern nur das, was sie auf dem Leib getragen hatte. Kurz vor der Grenze war der Zug von polnischen „Partisanen“ angehalten und die 1500 Insassen aus Danzig vollständig ausgeplündert worden. 1945 waren sie und mein Großvater trotz aller Warnungen in Danzig geblieben. Er war nicht in der Partei gewesen, aber Luftschutzwart, das genügte. Er kam in ein russisches Lager. Dort ist er später wegen Entkräftung zusammengebrochen und wurde von den Russen mit einem Spaten erschlagen. Ein Mithäftling hat es meiner Großmutter erzählt. Sie bekam einen kleinen Zettel von der Kommandantur, sehr viel später, als die Polen schon die Verwaltung von Danzig übernommen hatten: Tod durch Tuberkulose. Sie selbst, 62 Jahre alt, wurde nur vergewaltigt, immer wieder.

Nun saß sie in einem Güterwaggon, ohne Schuhe und Mantel. Die jugendlichen Banditen nahmen sich noch die Zeit, zwischen dem Ausplündern der Menschen ein paar der jungen Mädchen Gewalt anzutun, dann konnte der Zug, nach einem Aufenthalt von acht Stunden, weiter in Richtung Westen fahren. Das polnische Zugpersonal und die Miliz waren machtlos, unternahmen aber auch nichts. Die Banditen waren ehemalige Partisanen, die nun Kriminelle geworden waren.

Der Zug war einer jener Transporte, die nach den Vereinbarungen der polnischen Regierung mit der englischen Rhein-Armee vom 14. Februar 1946 organisiert wurden, es war eine jener „geregelten, ordnungsgemäßen und humanen Vertreibungen“, wie sie das Potsdamer Abkommen vorsah. Insgesamt 1360000 Ostpreußen, Pommern und Danziger wurden in die britische Zone „verfrachtet“, mit Güterzügen von je 55 Wagen.

Die Übergriffe waren keine Ausnahme, sie waren die Regel. Von der Ostsee bis zum Sudetenland. Das war die humane und ordnungsgemäße Vertreibung, wie sie die Großen Drei in Potsdam in Artikel XIII. vereinbart hatten.

Den zwölf Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen, die bis 1949 in den Westen kamen, folgten bis 1994 noch einmal 3,5 Millionen Aussiedler. Außerdem flohen aus dem Gebiet der Sowjetzone, der späteren DDR, bis Ende 1989 4,6 Millionen. 20 Millionen Deutsche verloren ab 1944 Heimat, Vermögen und Land. 2167000 Menschen verloren durch Flucht und Vertreibung ihr Leben. Fast alle waren Frauen, Kinder und Greise.

Ebenso wie die Deportation und Ermordung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten ist die Vertreibung der Deutschen und die Ermordung von 2,14 Millionen dieser Flüchtlinge ein einmaliges Ereignis in der neueren Geschichte, das jede bisher gekannte geschichtliche Dimension sprengt. Ein singuläres Verbrechen. Hitlers Deportationen und die Ermordung der europäischen Juden wurden im Nürnberger Prozeß als Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Zu Recht.

Zu Recht nach dem Gerechtigkeitsempfinden der vertriebenen Völker und formal rechtens Kraft eines neuen, nachträglich geschaffenen Gesetzes über die Verurteilung von Kriegsverbrechen. Doch dieses in Nürnberg geschaffene Recht mußte, wenn es dauerhafte Billigung der Völker finden wollte, normativ werden und durfte nicht nur für eine beschränkte Gruppe von Menschen angewandt werden. Der Gedanke eines übergreifenden Rechts, nach der alle Kriegsverbrechen strafbar sein müßten, lebt mit der Einrichtung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag fort. Nach diesem Recht werden die Kriegsverbrechen der Serben und Kroaten von 1997 bis 1999 abgeurteilt. Dürfen aber die Kriegsverbrechen, die Massenmorde und Vergewaltigungen der Roten Armee, die Vertreibungsverbrechen der Tschechen und Polen nach einem anderen Maßstab beurteilt werden?

Über die Vertreibung der 15 Millionen Deutschen urteilte der englische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russel schon am 23. Oktober 1945 in der Londoner „Times“: „In Osteuropa werden jetzt Massendeportationen von unseren Alliierten durchgeführt, und ein offensichtlich vorsätzlicher Versuch wird unternommen, viele Millionen Deutsche auszurotten, nicht durch Gas, sondern indem man ihnen ihre Häuser und Nahrung wegnimmt, um sie einen langsamen quälenden Hungertod sterben zu lassen. Sind Massendeportationen Verbrechen, wenn sie während des Krieges von unseren Feinden begangen werden, und gerechtfertigte Maßnahmen sozialer Regulierung, wenn sie durch unsere Alliierten in Friedenszeiten durchgeführt werden? Ist es humaner, alte Frauen und Kinder herauszuholen und in der Ferne sterben zu lassen, als Juden in Gaskammern zu ersticken?“ Immer wieder wird den heutigen Vertriebenen unterstellt, sie hätten die Verbrechen selber verschuldet, indem sie Hitler gewählt und geduldet hätten. Hunderte Schulklassen ziehen täglich durch die Ausstellung in Bonn und werden entsprechend belehrt. Wie ist das Bild eines, wie wir seit der Pisa-Studie wissen, ohnehin nur mittelmäßig ausgebildeten Schülers von Deutschland? Daß es vor 1800 gar nicht existierte, von da ab einen verhängnisvollen Weg in die Zukunft einschlug, unter Bismarck mit Blut und Eisen schon Großmachtgeltung auf Kosten fremder Völker erstrebte und erst recht unter dem späteren Kaiser Wilhelm II., dem „Hunnenkaiser“, den Ersten Weltkrieg vorbereitete und anzettelte, als dessen Folge Hitler den Zweiten Weltkrieg auslöste und unsägliches Leid über Millionen Menschen brachte. Warum Hitler gewählt wurde und mit welchem parlamentarischen Mechanismus er an die Macht gelangte, bleibt den nachkommenden Generationen rätselhaft.

Unsere Kinder und Enkelkinder stellen sich die Zeit zwischen 1933 und 1945 als eine freudlose, wirre Zeit des Elends, und des Terrors vor, eine Welt, in der die Menschen ständig marschierten, Juden in die Gasöfen transportierten und dazu Sieg-Heil riefen, Hitlerreden hörten und danach weiter marschierten und wieder Sieg-Heil brüllten. Möchten Sie Kind oder Enkelkind von solchen Leuten sein? Wie war das möglich, Opa? Da muß man lange ausholen, wenn man das seinen Kindern und Enkelkindern erklären will.

Man muß ihnen erklären, daß auch wir, ihre Eltern und Großeltern, unter Hitler in einem Unrechtsstaat lebten, der genau so skrupellos und mörderisch war wie die Sowjetunion unter Stalin. In einer Diktatur, die wir nicht gewählt hatten. Unsere Eltern oder Großeltern hatten, vielleicht, zu den 33,56 Prozent der Wähler gehört, die bei der letzten freien Reichstagswahl am 6. No-vember 1932 Hitler gewählt und so die NSDAP zur stärksten Partei gemacht hatten. Hier endet unbezweifelbar die Schuld jener

13 Millionen wahlberechtigten Urgroßväter und -mütter. Über die Hälfte seiner Neuwähler hatte vorher KPD gewählt. Wir, die heute 77jährigen, waren damals Kinder. Wir waren in die Diktatur hineingeboren und wuchsen in ihr auf. Wir besaßen nie die Freiheit, keine freie Presse, keine Parteien, keine freien Zeitungen und Rundfunkprogramme und schon gar keine 200 Fernsehprogramme oder ein Internet. Trotzdem lebten wir nicht ständig in einem Ausnahmezustand. Unser Alltag bestand nicht in Hitlerreden und Marschmusik. Wir hörten Tanzmusik oder Swing. Wir begeisterten uns nicht für Hitler, sondern für die Nachbarstochter. Wir gingen zur Schule, ins Kino oder in die Eisdiele. Unser Problem bestand darin, daß wir trotz Jugendverbot ins Kino eingelassen wurden, um Kristina Söderbaum nackt ins Wasser gehen zu sehen.

Wir haben zwölf Jahre in einer Diktatur gelebt, die jeden von uns bedrohte, Juden genauso wie Kommunisten oder Sozialdemokraten sowie Offiziere und Mannschaften der Wehrmacht.

Es war eine dunkle Epoche unserer Geschichte. Aber sie kann nur von einem selbstbewußten Volk verarbeitet werden und nicht von Menschen, die zur Anpassung, Verdrängung und Heuchelei erzogenen wurden.

Sich der Ge-schichte erinnern, das bedeutet auch, der deutschen Opfer zu gedenken. Der Versuch, die kollektive Erinnerung der Deutschen an das Grauen des Bombenkrieges, die Vertreibung der Deutschen aus den Ostprovinzen, die Ermordung von über zwei Millionen, die Greuel der massenhaften Vergewaltigung deutscher Mädchen und Frauen zu relativieren, wirkt nach all den Kriegen und Vertreibungen der letzten Jahre unzeitgemäß und überholt. Zu fordern ist die Wiederherstellung der verfälschten, abgetriebenen, gestohlenen geschichtlichen Erinnerung. Die Wiedergewinnung der Identität. Der Fähigkeit zu trauern.

Klaus Rainer Röhl schrieb über die Vertreibung das Buch „Verbotene Trauer – Ende der deutschen Tabus“, Universitas Verlag München, 238 Seiten, 19,80 Euro.


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