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24.12.05 / Die ostpreußische Familie Extra / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. Dezember 2005

Die ostpreußische Familie Extra
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Von Marzipan und anderem Positiven

Lewe Landslied, liebe Familienfreunde,

als unsere Ostpreußische Familie einmal so ganz bescheiden begann, stand als Leitmotiv "Du sollst nicht allein sein" über der schmalen Spalte, von der man damals nicht wußte, wie lange sie ihren Platz im Ostpreußenblatt ausfüllen würde. Es sind nun 33 Jahre her, und sie hat nicht nur an Umfang zugenommen, sondern auch an Aufgaben, die ihr als Mittlerin zwischen den Leserinnen und Lesern in aller Welt, aber auch zwischen den Generationen, anvertraut werden. Daß wirklich niemand allein ist, wer sich zu unserer Ostpreußen Familie zählt, ist längst bewiesen. Kaum eine Frage, die nicht eine Antwort findet, wenn sie auch nicht immer klärend ist. Und wenn auch Wünsche nicht erfüllt werden, nicht erfüllt werden können, weil die Zeit so vieles gelöscht hat, so gibt es doch ein ehrliches Bemühen, ein Mitdenken, Mitfühlen, ein tröstendes Wort und oft Begegnungen, die sogar zu Freundschaften werden. "Du bist nicht allein" - wir erfüllen diese Worte mit Leben, bewußter und intensiver, je älter und leider oft auch einsamer unsere treuesten Leserinnen und Leser werden. Und so habe ich für unsere "Weihnachtsfamilie" einen Bunten Teller zusammengestellt, in dem wohl jeder einen Schmandbonbon findet - kleine Geschichten, Erlebnisse, Erinnerungen -, und ich kann nur sagen: "Langt man zu, laßt euch nicht nötigen!" (Letzteres mußte ja in unserer Heimat sein, und das schlimmste Urteil, das über eine Gastgeberin gefällt werden konnte, war: Sie hat überhaupt nicht genötigt!)

Beim Marzipan brauchte man das eigentlich nicht, denn danach wurde zuerst gegriffen! Was wäre eine ostpreußische Weihnacht ohne selbstgebackenes Marzipan gewesen! Aber solch ein Riesenherz, wie es jetzt der Bäcker- und Konditormeister Dr. Udo Pfahl in Elmshorn schuf, wäre wohl kaum am heimatlichen Küchentisch entstanden! Das war schon eine tolle Überraschung für die Bewohner und zahlreichen Besucher des Seniorenheimes "Am Bornbusch" in Oelixdorf, als er ihnen seine süßen Künste zeigte. Es war am Tag der offenen Tür, der von der DRK-Schwesternschaft Ostpreußen e. V. veranstaltet wurde. Vor den Augen der Zuschauer entstand echtes Königsberger Marzipan, außer dem Riesenherz mit dem preußischen Adler auch ornamentales Konfekt. Frisch geflämmt konnten die duftenden Köstlichkeiten einer sensorischen Prüfung unterzogen werden. Daß es wirklich "echtes Königsberger" war, dafür garantierte der Produzent, denn Dr. Udo Pfahl hat die Herstellungsweise von seinem Vater übernommen, der das Bäcker- und Konditorenhandwerk in Tilsit erlernt und in Königsberg ausgeübt hatte. Heute gibt sein Sohn seine Kenntnisse und Fertigkeiten als Studiendirektor an der Beruflichen Schule Elmshorn weiter. Liebevoll bettete Dr. Pfahl seine mandelsüßen Schöpfungen in ein Ensemble ostpreußischer Impressionen, wozu auch die Ausstecher für "Thorner Katharinchen" zählten, die er von unserer Heimatgefährtin Hanna Wenk bekommen hatte. Sie hatte jahrelang über unsere "Ostpreußische Familie" interessierte Leserinnen mit den von ihrem Sohn gefertigten typischen Förmchen versorgt. Und die rundbogigen Katharinchen stehen auch in diesem Jahr auf dem Stundenplan der Elmshorner Berufsschule. Dank Dr. Pfahl, dem bei seiner süßen Präsentation eine Flüchtlingsfrau aus unserer Zeit assistierte: Farchonda Rohparwar stammt aus Afghanistan und hat hier in Deutschland das Konditorenhandwerk erlernt. Sie verzauberte die Teilnehmer mit Blütenbouquetts aus karamellisiertem Zucker. Ein wahrhaft süßer Tag für die betagten Heimbewohner, und für die Ostpreußen ein ganz besonderer: Heimat kann man auch schmecken - wenn sie aus Marzipan ist!

Auch aus Elmshorn kam ein Marzipangruß, allerdings ein blecherner, denn es handelt sich um eine alte Marzipanschachtel, die mir unser Landsmann Dr. Manfred Heins übersandte. In ihr verkaufte und versandte einst die Konditorei Kurt Gehlhaar ihr Königsberger Marzipan. Die Köstlichkeiten dieser größten Marzipan- und Konfitürenfabrik Ostpreußens wurden zur Weihnachtszeit weltweit versandt und damit weltberühmt, wie der Schachtelaufdruck beweist. Allerdings blieb diese Schachtel zuerst in Ostpreußen, denn sie gehörte Herrn Heins Großmutter Meta Wilcke aus Coadjuthen. Die in Insterburg Geborene ging 1910 nach Kiel als Haushaltshilfe und Krankenschwester. Nach ihren Worten habe sie die Schachtel schon damals bei sich gehabt, schreibt Dr. Heins, aber das kann eigentlich nicht stimmen, da die Firma Gehlhaar erst 1912 gegründet wurde. Vielleicht hat sie das Blechkästchen mit dem köstlichen Inhalt als süßen Heimatgruß zugesandt bekommen. Wie auch immer: Großmutter Meta hat es nicht fortgeworfen, sondern als Knopfschachtel benutzt. Sie hat alle Wirren überstanden, denn Herrn Heins Großvater hatte, nachdem er zur See gefahren war, einen Hof am Schaalsee übernommen, wurde als Regimegegner enteignet und starb 1963 nach einem Verkehrsunfall. Seine Frau Meta verstarb 1972 hochbetagt bei ihrem Enkel Manfred in Parchim. Die Schachtel blieb in der Familie, mit der nun Dr. Heins auch seine eigene wechselvolle Geschichte, die durch die DDR-Zeit geprägt wurde, verbindet: Sie überstand 15 Wohnungswechsel und zwei Ehen, wie er schreibt. Es ist schon eigenartig, wenn man diese braungelbe Blechschachtel in der Hand hält und an die Menschen und ihre Schicksale denkt, die mit ihr verbunden sind. Ich will ihr Deckelbild hier als Weihnachtsgruß an unsere große Ostpreußische Familie senden - irgendwie symbolisiert sie auch die Geschichte unserer Königsberger Spezialität. Denn "marzapana" nannten die Venizianer die Schachtel, mit der aus Zypern die süße Köstlichkeit aus Mandeln, Zucker und Rosenwasser in die Lagunenstadt kam. Königsberger Marzipan, das übrigens schon bei der Hochzeit von Herzog Albrecht 1526 die Festtafel bereicherte, wurde als mit Zuckermasse gefülltes und mit kandierten Früchten belegtes Randmarzipan, dessen Oberfläche geflämmt wird, zur Spezialität. Auf der Schachtel steht "der" Marzipan - wir haben das Mandelkonfekt im Sprachgebrauch "versächlicht", aber laut Duden sind beide Artikel verwendbar.

Erinnerungen an die Weihnachtsfeste unserer Kindheit haben wir alle, und auch aus schweren Zeiten "leuchtet's fröhlich noch zurück". So wie die wahre Märchenweihnacht der Georgenburgerin Inge Wenzek, obgleich die Achtjährige sie damals nicht mehr in der Heimat verlebte. Ostpreußen hatte ihr Großvater Gustav Fehler mit anderen Georgenburgern bereits im Spätherbst 1944 verlassen müssen, als 100 Hengste des Gestüts nach Moritzburg bei Dresden gebracht werden mußten. Inge verlebte nun das Weihnachtsfest bei ihren Großeltern, und die gaben dem Kind auch fern der Heimat Geborgenheit. Aber nun lasse ich Frau Wenzek selber von ihrer Märchenweihnacht erzählen:

"Am ersten Weihnachtstag sagte mein Großvater zu mir: ,Jetzt machen wir eine Schlittenpartie.' Ich fragte verwundert: ,Woher bekommen wir einen Schlitten?' Antwort: ,Vom Weihnachtsmann!' An den glaubte ich aber längst nicht mehr. Es wurden zwei Hengste aus dem Stall geholt, auch mein geliebter Tobias war dabei. Großvater hatte viel Mühe mit den beiden, die Pferde wurden ja zu wenig bewegt. Nun wußten sie nicht, wohin mit ihrer Kraft. Auf der Brücke zum Jagdschloß wurden wir schon von einigen Kindern mit ihren Schlitten erwartet. Das Schloß war voll mit Kindern aus den deutschen Ostgebieten, die alle irgendwie mit den Wettinern verwandt waren. Vor dem Schloß wurden wir schon von dem Schloßherrn, dem Prinzen, erwartet. Ich war ihm schon einige Male begegnet, denn man konnte damals tatsächlich noch einige Prunkräume besichtigen, vor allem die berühmte Geweihsammlung. In Erinnerung ist mir auch eine mit schönem Meißner Porzellan gedeckte Tafel geblieben. Wir gingen mit dem Prinzen zur Remise. Dort wartete auf uns ein reichverzierter und mit rotem Samt ausgeschlagener Schlitten. Ich kannte ja auch aus Georgenburg und Insterburg schöne Schlitten, denen man bei gutem Schlittenwetter begegnete, dieser aber war ein wahrer Märchenschlitten. Nach über 60 Jahren habe ich immer noch die Worte meines Großvaters im Ohr: ,Dieser Schlitten ist doch viel zu schade für die Kinder!' Und ich höre noch den Prinzen antworten: ,Wer weiß, was daraus einmal wird!' Als ich 50 Jahre später zur Adventszeit in Moritzburg war, wußte niemand mehr, wo die Prunkwagen und Schlitten geblieben waren! Aber damals paßte eben alles in meiner Weihnachtsmärchenwelt zusammen: das Schloß, die zugefrorenen Seen, der tiefverschneite, fast unberührte Wald, das wie verzaubert im Dämmerlicht verharrende Wild im Gehege, das Glitzern und Gleißen der letzten Strahlen der Wintersonne. Und alles durchtönt vom Schlittengeläut - himmlische Töne für mich, das Flüchtlingskind, ein zur Wirklichkeit gewordenes Weihnachtsmärchen, das unvergessen blieb!"

Die Suchgeschichte, die uns wohl in diesem Jahr am stärksten berührt hat, ist die von dem Zueinanderfinden der Familie Schipporeit, obgleich sie auch eine Tragik bringt, denn der Mann, der Mutter und Geschwister ein Leben lang gesucht hat, lebt nicht mehr. Erst nach seinem Tod fanden seine Hinterbliebenen aus Litauen die in Deutschland lebende Schwester, die ihrerseits bis in die letzte Zeit hinein nach ihm gesucht hatte. Jetzt hat Sigrid Meier, geborene Schipporeit, aus Schwabach einen Nachruf für ihren Bruder Carl-Ulrich Schipporeit, * 21. Juni 1938 in Königsberg, * 1986 in Litauen unter dem Namen Kasies Gerulis, geschrieben. Und weil darin alle Angaben authentisch sind, will ich ihn im Wortlaut veröffentlichen, denn nun ist die Suchfrage endlich gelöst. Dank unserer Ostpreußischen Familie. Und das ist für uns auch ein Weihnachtsgeschenk.

Sigrid Meier-Schipporeit schreibt: "Im März 1990 erfuhr ich über Umwege aus dem Ostpreußenblatt, daß eine Frau Gerullis Verwandte ihres verstorbenen Mannes sucht. Da der Name falsch geschrieben wurde und auch sonst einige Angaben nicht stimmten, habe ich erst nicht geglaubt, daß es mein Bruder Ulli gewesen sein kann. Wir hatten ihn in Litauen gesucht, da er ja im Mai 1947 zum Betteln nach Litauen gefahren war und bis zum 31. Mai, Muttis Geburtstag, wieder zurück sein wollte. Er kam nicht wieder! Für uns war es sehr traurig, Mutter hat immer gehofft, ihn doch noch zu finden. Nach vielem Hin und Her von Briefen aus Litauen weiß ich von Ulrichs Frau, daß er - aus welchen Gründen auch immer - nicht mehr nach Königsberg zurück konnte. In Litauen hat er bei Bauern gearbeitet und wurde dann von einer Familie adoptiert. Er arbeitete in der Landwirtschaft, hat später geheiratet und fünf Kinder gezeugt. Mein Bruder starb bei einem Arbeitsunfall im Jahr 1986. Wir hatten ihn schon seit 1951 einige Male durch den Suchdienst des Roten Kreuzes suchen lassen, meine letzte Anzeige stellte ich, als Litauen wieder von den Russen freigegeben wurde. Ich hätte ja so viele Fragen, die mir sichtlich nur Ulrich hätte beantworten können, auch wenn nur mit Hilfe eines Dolmetschers. Meine Schwägerin hat mir seine Augenfarbe - braun - und sein Muttermal in der Kniekehle bestätigt. Jetzt habe ich auch Fotos - es ist Familienähnlichkeit vorhanden. Nach 58 Jahren erfahre ich, daß er gelebt hat und ein gutes Leben in einer neuen Familie hatte."

Soweit Ingrid Meier, die selber als Halbwaise - Vater Paul Schipporeit war im Oktober 1944 in Osnabrück bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen - in dem von Russen eroberten Metgethen und auch in Litauen Unerträgliches durchgemacht hat. In Kaunas verstarb 1951 ihr jüngster Bruder Stefan, als die Mutter mit ihm und der Tochter nach dem verschollenen Karl-Ulrich suchte. Über ihre Kindheit und Jugend hat die heute 71jährige ein kleines Büchlein geschrieben, vor allem für ihre Enkel und weitere Nachkommen. Dies wird nun ein neues Kapitel werden, das auch die Begegnung mit den neuen Verwandten beinhalten wird, wenn Ingrid Meier im nächsten Jahr nach Litauen fährt.

Ja, und was macht unser "Christkind", der kleine Mantas Stankevic aus Litauen? Wir pflegen in jedem Jahr über ihn zu berichten, da seine bisherige Lebensgeschichte eng mit unserer Ostpreußischen Familie verbunden ist. Vor sieben Jahren wurde unser Mitarbeiter Dr. Detlef Arntzen in Ruß von einer älteren Memelländerin angesprochen, die ihn bat, ihr doch ein paar alte "Koddern" zu schicken, da bei ihrem Urenkel "das Wasser immer aus dem Bauch lief". Wie sich dann feststellte, fehlten dem damals Vierjährigen verschiedene Organe im Unterleib, seine Lebenserwartung war nur noch kurz. Mit einer spontanen Hilfsaktion bewirkte Dr. Arntzen, daß Mantas in Kiel operiert wurde. Inzwischen erfolgten weitere, durch Spenden ermöglichte Operationen und Nachuntersuchungen, die letzte im vorigen Jahr. Man kann es wirklich ein Wunder nennen, daß aus Mantas ein glücklicher Junge geworden ist, der fast problemlos leben kann, ein begabter, guter Schüler mit guten Zukunftsaussichten. Sein Traumberuf ist Schiffsingenieur, die Fahrten nach Deutschland über See haben ihn wohl sehr beeindruckt. Sein letzter Brief an Dr. Arntzen war in deutsch, der Sprache seiner inzwischen verstorbenen Urgroßmutter Jakubeit, geschrieben:

"Lieber Onkel Arntzen. Viele Dank für Ihren Brief und sehr interessante Zeitungen. Ich bin gesund und gut lernt. Bei uns in der Schule, vielleicht in zwei Jahr, wird Deutsch Sprach. In dieses Jahr sehr wenige Schüler in meine Klasse wollen Deutsch Sprach lernt, alles englisch lernt. Mutti und Vater sehr viel arbeiten und ich fast allein zu Hause war."

Und seine Mutter Rasa, die inzwischen ein sehr gutes Deutsch spricht, fügte noch hinzu: "Viele Grüße an deutsche Menschen!" Die wir weiterleiten an alle, die mit dem nun elfjährigen Mantas mitgefühlt haben.

Und so bleibt mir nur noch übrig, ein herzliche Dankeschön zu sagen für die großartige Hilfsbereitschaft unserer Ostpreußischen Familie und ein gesegnetes Weihnachtsfest zu wünschen.

Eure Ruth Geede

Der Ostpreuße Dr. Udo Pfahl zeichnet verantwortlich für diesen Traum in Marzipan, Schachtel der Konditorei Kurt Gehlhaar, Mantas Stankevic


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