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31.12.05 / Menschenwürde ist ein Geschenk / Kirchen und Gewerkschaften fordern mehr soziale Gerechtigkeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / 31. Dezember 2005

Menschenwürde ist ein Geschenk
Kirchen und Gewerkschaften fordern mehr soziale Gerechtigkeit
von Jürgen Liminski

Daß die Kirchen zu Weihnachten an Menschenwürde und Gerechtigkeit erinnern – geschenkt, im wahrsten Sinn des Wortes. Die Menschenwürde ist ein Geschenk. Daran erinnert zu werden, das durfte man erwarten. Ist doch das, was die Gläubigen an diesem Fest feiern, nämlich die Menschwerdung Gottes, das Nonplusultra der Menschenwürde, sozusagen als Höhepunkt der Menschenwürde nicht zu toppen. Aber daß die Kirchen sich so politisch äußern, das ist schon ungewöhnlich. Mehr Sinn für Ethik bei Gentechnik und Stammzellforschung und vor allem mehr soziale Gerechtigkeit insbesondere gegenüber Familien, das läßt schon aufhorchen in diesen Tagen der Geruhsamkeit. Wenn dann die Gewerkschaften zusammen mit den vier großen Sozialverbänden dieses Landes genau zu Weihnachten an die Bundesregierung appellieren, ihre Rentenpläne zu überdenken, auch im Sinn der sozialen Gerechtigkeit, und dann noch der Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache die Hoffnung im Volk aufgreift, daß nun mit der großen Koalition parteipolitische Gegensätze überbrückt werden könnten, um wirklich große Reformen anzupacken, dann darf man sich fragen: Was fehlt denn eigentlich angesichts eines so breiten gesellschaftlichen Konsenses noch, um dem Ziel von mehr sozialer Gerechtigkeit wirklich näher zu kommen?

Die Frage richtet sich an die Bundesregierung. Die Breite des Konsenses in der Gesellschaft erhöht den Druck auf die Regierung Merkel. Natürlich ist die große Koalition bemüht, Lösungen zu finden. Aber Maßnahmen nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners werden niemanden zufriedenstellen und sind auch keine Lösungen für die großen sozialen Probleme, die dem Land schon wegen der demographischen Entwicklung ins Haus stehen.

Spätestens in der nächsten Legislaturperiode gehen die ersten Baby-Boomer, geburtenstarken Jahrgänge, in Rente. Wie das bezahlt werden soll, weiß vermutlich heute niemand. Auch ein weiteres soziales Problem von erheblicher Tragweite wird nur von wenigen offen ausgesprochen. Verfassungsrichter Udo di Fabio formuliert es so: „Die Schere zwischen Kinderlosen und Kinderreichen wächst zu einem der sozialen Probleme heran. Wir müssen nicht nur über die Verteilung der materiellen Güter in unterschiedlichen Schichten diskutieren. Sie muß auch zwischen denen thematisiert werden, die Kinder haben, und jenen, die keine haben. Das verlangt Artikel 6 des Grundgesetzes, das verlangt aber auch die praktische Vernunft“.

Solche Einsichten sind derzeit zwar politisch nicht mehrheitsfähig – aber gerade das ist Teil des Problems: Die soziale Wirklichkeit wird von der Mehrheit des politisch-medialen Establishments in wichtigen Bereichen verdrängt oder nicht wahrgenommen. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits mehrfach auf diese Schere hingewiesen und den Gesetzgeber daran erinnert, daß er bei jedem neuen Gesetz darauf zu achten habe, daß der Einkommensabstand zwischen Kinderlosen und Familien sich nicht noch weiter ausweite. Aber das Gegenteil passiert seit Jahren, und die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer wird die Schere noch einmal deutlich auseinanderklaffen lassen.

Niemand sollte den Großkoalitionären mangelnden guten Willen unterstellen. Vielleicht fehlt ihnen einfach nur der Mut und die Phantasie, die Trampelpfade der bisherigen Sozialpolitik zu verlassen und neue Wege zu denken. Zum Beispiel, daß Familienpolitik kein Teil der Sozialpolitik ist, sondern eher der Wirtschaftspolitik. Familien sind kleine mittelständische Unternehmen. Das weiß mittlerweile schon die Werbung. Auch in den Wirtschaftswissenschaften findet ein Denkprozeß statt, der Familie als Wirtschaftsfaktor, etwa für den Konsum, in neue Berechnungen einbezieht. Eine große Studie über Fruchtbarkeit und Wirtschaftswachstum ist in Vorbereitung und wird im nächsten Jahr der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Bezeichnend ist, daß sie nicht in einem staatlichen Institut angefertigt wird.

Der Druck der Gesellschaft auf die Bundesregierung, der sich in diesen Weihnachtstagen manifestierte, ist ein Druck, bei den Reformen mehr Mut und Phantasie zu entwickeln, noch mehr in Zusammenhängen zu denken und sich nicht in pusseligen Details zwischen den Ressorts zu verharken. Zehn Millionen mehr für irgendeine familiäre Randgruppe, das ist allenfalls ein Thema für Abteilungsleiter in den Ministerien. Die große Koalition hat eine Chance: Sie kann dank ihrer Mehrheiten große Würfe planen, auch und gerade in der Gesellschaftspolitik.

Und das sollte sie auch tun, denn angesichts der drohenden gesellschaftlichen Verwerfungen, der wachsenden Atomisierung und des verdunstenden Gemeinsinns gibt es dazu keine Alternativen. Hat Sie eine Antwort?

Herausforderung: Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschland, Bischof Wolfgang Huber, im Gespräch mit dem Bundesminister für Arbeit und Soziales Franz Müntefering


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