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31.12.05 / "Heute gelten die Bücher als politisch inkorrekt" / Interview mit Professor Dr. Dr. Alfred de Zayas über Flucht und Vertreibung als gesellschaftliches Thema

© Preußische Allgemeine Zeitung / 31. Dezember 2005

"Heute gelten die Bücher als politisch inkorrekt"
Interview mit Professor Dr. Dr. Alfred de Zayas über Flucht und Vertreibung als gesellschaftliches Thema

60 Jahre nach Beginn der Vertreibung bringen Sie, Herr Professor de Zayas, völlig aktualisierte Ausgaben Ihrer beiden Bücher zur Vertreibung. Wie war die Aufnahme der Bücher seinerzeit in Deutschland, und welche Aufnahme erwarten Sie heute?

Prof. Dr. Dr. Alfred de Zayas: Als „Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung“ 1977 im Verlag C.H. Beck erschien, wurde das sofort ein Bestseller. Die Rezensionen in der „Zeit“ („in der Beweisführung von bestechender Präzision“) und der „Süddeutscher Zeitung“ („von tiefem Ernst und bohrender Gründlichkeit“) waren gut. Damals lebte noch der größte Teil Erlebnis-Generation. Die Vertriebenen wußten, was ihnen 1944 bis 1950 geschehen war. Die Nichtvertriebenen wußten, was der Bombenkrieg bedeutete. Sie hatten erlebt und erlitten und verstanden sich als Opfer. Als die „Anmerkungen zur Vertreibung“ 1986 bei Kohlhammer erschienen, waren die Rezensionen in der „Historischen Zeitschrift“ und in der „FAZ“ phantastisch. Aber ich hatte den Eindruck, daß die Bereitschaft, sich mit den Implikationen der Vertreibung auseinanderzusetzen, kaum vorhanden war. Man betrachtete die Thematik nach wie vor als unbequem, ja vielleicht gefährlich.

Wie war die Aufnahme der Bücher in Ihrer Heimat, den Vereinigten Staaten?

Alfred de Zayas: Exzellent. Als „Nemesis at Potsdam“ im renommierten Verlag Routledge in London und Boston erschien, folgten sehr gute Rezensionen in der „Herald Tribune“, in der „Times Educational Supplement“, in der „American Historical Review“, „American International Law Journal“. Immerhin hatte der US-Staatsmann Robert Murphy das Vorwort geschrieben. Als „The German Expellees“ bei Macmillan erschien, folgten auch großartige Rezensionen in der „London Times“, im „Ottawa Citizen“ – allerdings auch eine nicht so freundliche Rezension von Fritz Stern in „Foreign Affairs“. Ich erwartete gewissermaßen eine offene Diskussion unter Historikern – dies geschah aber nicht. Man hatte die Thematik lanciert, man hatte sich momentan damit beschäftigt, aber man hatte zugleich die Tür geschlossen, denn die Thematik war immer noch nicht gesellschaftsfähig.

Wie beurteilen Sie die Stimmung in Deutschland heute?

Alfred de Zayas: Leider weniger objektiv und nüchtern als damals. Ich bezweifle sehr, daß ich heute diese Bücher bei C. H. Beck oder bei Kohlhammer veröffentlichen könnte, denn beide Verlage würden die Bücher als „politisch inkorrekt“ einstufen. Das war nicht so 1977 beziehungsweise 1986. Erlauben Sie mir außerdem eine generelle Bemerkung.

Ich finde die heutige deutsche Gesellschaft viel materialistischer und leerer als die ältere Generation. Als Fulbright-Stipendiat in den 1970er Jahren lernte ich große Persönlichkeiten kennen, Menschen für die Werte wie Ehre und Anstand etwas bedeuteten. Ich war von Menschen wie Dr. Alois Mertes und Heinrich Windelen beeindruckt. Die heutigen deutschen Politiker beeindrucken mich kaum. Im Gegenteil. Die Situation ist ein bißchen surrealistisch. Die Deutschen könnten und sollten sich freuen, daß sie in einem friedlichen demokratischen Land leben. Aber sie manifestieren überall ihren Pessimismus. In den 70er und 80er Jahren waren die Deutschen vielleicht ärmer als heute, aber sie hatten mehr Lebensfreude und mehr Hoffnung als heute.

Was ist der Unterschied zwischen Ihren beiden Büchern?

Alfred de Zayas: Die „Nemesis von Potsdam“ ist eine wissenschaftliche Arbeit mit einem Anmerkungsapparat von 64 Seiten und einer Bibliographie von 57 Seiten. Das Buch untersucht vor allem die diplomatische Geschichte der Vertreibung anhand der Akten der Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam, und dabei untersucht es die Frage, welche Verantwortung die Westalliierten für die verhängnisvollen Entscheidungen tragen. Das Buch ist leicht zu lesen, aber es sind praktisch keine Bilder dabei. „Die deutschen Vertriebenen“ ist eine populärwissenschaftliche Arbeit mit mehr als 120 Bildern und nur 104 Endnoten. Sie untersucht die Vertreibung aus der Perspektive der Opfer, das heißt der Vertriebenen, nicht der Politiker.

Was ist eigentlich neu in den Ausgaben?

Alfred de Zayas: Ich habe jede Zeile beider Bücher noch einmal gelesen und habe kleine und größere Änderungen und Ergänzungen überall gemacht. In beiden Büchern ist die Paginierung völlig anders geworden, was ein neues Register erforderlich machte. In beiden Büchern kommen auch neue statistische Tabellen, neue Dokumente, neue Zeugenaussagen. Beide Bücher sind bis zum Herbst 2005 aktualisiert worden, unter Verwendung von vielen neuen Uno-Dokumenten, Resolutionen, Untersuchungen, Erklärungen, Urteilen des Uno-Menschenrechtsausschusses und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, auch der Rede vom ersten Uno-Hochkommissar für Menschenrechte, Dr. Jose Ayala Lasso, in Berlin am 6. August 2005, und mit Zitaten von Papst Benedikt XVI. Grosso Modo kann man sagen, daß die Bücher wohl 20 Prozent neues Material erhalten.

Was halten Sie für besonders wichtig an Ihren Büchern?

Alfred de Zayas: Die „Nemesis von Potsdam“ beweist mit Hilfe von Archivdokumenten und Interviews mit den beteiligten Politikern und Diplomaten, Teilnehmern an der Potsdamer Konferenz – wie George Kennan, James Riddelberger, Sir Geoffrey Harrison, Sir Dennis Allen und Lord Strang – daß die Anglo-Amerikaner zwar historische, juristische und moralische Verantwortung für die Vertreibung tragen – sie allerdings etwas ganz anderes bewirken wollten, als dann geschah. Sie wollten eine beschränkte Umsiedlung und eine gewisse Entschädigung Polens. Sie wollten den Deutschen eine Lehre erteilen, aber dabei keine menschliche Katastrophe und schon gar keinen Völkermord verursachen. Bei Stalin und bei den Vertreiberstaaten sah es anders aus. Sie beabsichtigten Landraub im großem Stil und dabei die Beseitigung möglichst vieler Deutscher. Es war reiner Rassismus. Nach den Aussagen Beneschs und nach den Benesch-Dekreten erfüllte die Vertreibung der Sudentedeutschen die Kriterien des Artikels II der Völkermordkonvention. Bei Bierut war die Vernichtungsabsicht nicht so deutlich, jedoch muß man sowohl die Vertreibung aus Polen und den deutschen Ostprovinzen als auch die Vertreibung aus der Tschechoslowakei als Verbrechen gegen die Menschheit bewerten. Jedenfalls kann sich weder Polen noch Tschechien auf Artikel XIII des Potsdamer Protokolls berufen, um die Vertreibung der Deutschen gewissermaßen zu legitimieren, denn sie haben konsequent und fortwährend gegen Geist und Buchstaben des Potsdamer Beschlusses gehandelt.

„Die deutschen Vertriebenen“ verwirft die menschenverachtende Täter-Opfer-Schablone, es widerspricht dem Prinzip der Kollektivschuld und stellt die menschenrechtliche Problematik ins Zentrum der Untersuchung. Am Ende des Buches fasse ich alles in zehn historischen Thesen, zwölf völkerrechtlichen Thesen und zehn Schlußfolgerungen zusammen.

Was möchten Sie erreichen?

Alfred de Zayas: Daß die amerikanischen, britischen, deutschen, polnischen, russischen und tschechischen Historiker ihre Pflicht tun – und sich in aufrichtiger Weise mit der Vertreibung auseinandersetzen. Dabei könnten sich meine historischen und völkerrechtlichen Thesen als nützlich erweisen.

Warum haben Sie diese Thesen geschrieben?

Alfred de Zayas: Um die wissenschaftliche Diskussion zu erleichtern. Ich halte sie für didaktisch nützlich. Gymnasiallehrer könnten sie durchaus im Unterricht als Themen für Hausarbeiten oder für Arbeitsgruppen einsetzen. Es ist an der Zeit, daß die Vertreibung der Deutschen in allen Schulen gelehrt wird, eben als ein Kapitel in der Geschichte Deutschlands und Europas. Die Thematik darf weder ausgeklammert noch relativiert oder bagatellisiert werden.


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