29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
07.01.06 / Paradoxe Leidenschaft / Gorbatschows Berater Wjatscheslaw Daschitschew über das Wechselbad deutsch-russischer Beziehungen / Teil I

© Preußische Allgemeine Zeitung / 07. Januar 2006

Paradoxe Leidenschaft
Gorbatschows Berater Wjatscheslaw Daschitschew über das Wechselbad deutsch-russischer Beziehungen / Teil I

Die beiden größten Nationen in Europa waren sich in der Geschichte oft in Freundschaft zugeneigt, ebenso aber tobten auch gegenseitiger Haß und ideologische Verblendung. Für den einstigen Gorbatschow-Berater Prof. Wjatscheslaw Daschitschew jedoch bleibt die Verbindung von Deutschen und Russen schicksalhaft für ganz Europa. Der einstige Außenpolitik-Experte des Kreml beschreibt die Höhepunkte, Abgründe und Chancen im jahrhundertealten Verhältnis beider Völker.

Deutschland und Rußland gehörten schon jahrhundertelang zum Kreis der Hauptakteure auf der europäischen Bühne und prägten maßgeblich das Antlitz Europas. Sie erlebten Höhepunkte ihrer beiderseits vorteilhaften Zusammenarbeit im 19. Jahrhundert. Sie erlebten auch Höhepunkte ihrer Entfremdung, Gegnerschaft und der Lähmung ihrer Zusammenarbeit im 20. Jahrhundert, was zu schwerwiegenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Folgen für beide Länder und für ganz Europa geführt hat.

Im Ergebnis haben Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Rußland Ende desselben Jahrhunderts ihre Positionen in der europäischen Entwicklung eingebüßt.

Trotz aller Abschwünge in den deutsch-russischen Beziehungen haben wir mit einem historischen Paradox zu tun: Die Russen und die Deutschen spüren in ihrer Masse eine beständige Neigung zueinander. In den letzten Umfragen nannte die überwiegende Mehrheit von Russen Deutschland als das am meisten bevorzugte Land.

Aus meiner Sicht liegt das daran, daß die beiden Völker viel Gemeinsames in ihrer Geschichte und in ihrer Kultur haben: Einerseits die unübertroffenen Muster der humanistischen Tendenzen in der Literatur, Musik, Philosophie, die gegenseitige geistige Beeinflussung und Bereicherung, das hohe Ni-veau der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse, die große Rolle, die die „Heimatdeutschen“ wie die Kaiserin Katharina II., der Ministerpräsident Rußlands an der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts, Sergej Witte und Abertausende mehr in der Entwicklung Rußlands gespielt haben. Andererseits das gemeinsame Unheil in Gestalt der beiden totalitären Regime, die Greueltaten und Verbrechen von Hitler gegen das russische Volk, aber auch Gewaltakte und Verbrechen Stalins gegenüber dem deutschen Volk.

Allerdings waren Greuel und Verbrechen auch der Politik der Westmächte eigen. Ausführlich wurden sie in dem fundamentalen Werk von Franz Seidler und Alfred de Zayas erforscht. Ausnahmslos alle kriegführenden Mächte verletzten das weise Gebot, das in dem Traktat von Immanuel Kant „Zum ewigen Frieden“ formuliert wurde: „Kein Staat darf sich erlauben, in dem Krieg gegen einen anderen Staat solche Handlungen anzuwenden, die das gegenseitige Vertrauen nach dem Krieg unmöglich machen.“

Im Laufe des 20. Jahrhunderts hing über Rußland und Deutschland wie ein Damoklesschwert die Verdammnis der Spaltung Europas. Die Eigenart Europas im 20. Jahrhundert kann man durch zwei Worte kennzeichnen: Spaltung und Konfrontation.

Vor 1914 formierte sich der Block der Mittelmächte, geführt von Deutschland, und die Entente bestehend aus England, Frankreich und Rußland. Das Streben der rivalisierenden Mächte nach der Dominanz und Neuverteilung der Welt lief auf den Ersten Weltkrieg hinaus. 1917 spaltete sich Europa in zwei Systeme: Sowjetrußland und das übrige, kapitalistische Europa, die im scharfen Gegensatz zueinander standen. 1933 kam es zu einer Vertiefung und Verwicklung der europäischen Spaltung. Europa zerfiel danach in drei Teile: das totalitäre nationalsozialistische Deutschland, das totalitäre kommunistische Rußland und die Westmächte – England und Frankreich. Es begann ein gefährliches Hasardspiel innerhalb dieses Dreiecks um die Herrschaft, das zum Zweiten Weltkrieg letztendlich hinüberwuchs. In vielen deutschen Studien ist die Meinung vertreten, dieser Krieg hätte „viele Väter“, nicht nur Hitler und Stalin. Aus meiner Sicht spiegelt diese Meinung voll und ganz die damaligen Realitäten.

Nach 1945 vertiefte sich die Spaltung Europas gravierend. Als Hauptakteure traten die Sowjetunion und die USA auf. Die Hauptkampflinie verlief mitten in Deutschland. Seine Teilung war eine für das deutsche Volk und ganz Europa tragische Folge der Nachkriegsregelung, verkörpert in den Jalta- und Potsdambeschlüssen.

Die Jalta-Potsdam-Ordnung erwies sich indes als viel vorteilhafter für die USA als für die Sowjetunion. Noch während des Krieges waren die Westmächte bestrebt, die Macht Deutschlands für immer zu brechen, unabhängig davon, wer im Lande regierte. Sie weigerten sich, die deutsche Opposition zu unterstützen. Für sie war es viel wichtiger, Deutschland bis zum bitteren Ende niederzuwerfen. Diesem Ziel diente das von Roosevelt und Churchill auf der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 vereinbarte Prinzip der „bedingungslosen Kapitulation“ Deutschlands. In den USA wurde ein Szenario der „Agrarisierung“ Deutschlands und der Vernichtung seines Industriepotentials ausgearbeitet, der Morgenthau-Plan. Darüber hinaus gab es Absichten, das deutsche Volk als solches durch die gewaltsame Sterilisierung zu liquidieren und den deutschen Staat im Laufe von 60 bis 70 Jahren von der Karte Europas verschwinden zu lassen. Nur der entbrannte Konflikt mit der Sowjetunion zwang die USA und England, diese Pläne zu ändern.

Die USA hatten noch während des Krieges aus dem Munde des (späteren) Generalsekretärs der Nato, Ismay, die dreifache Aufgabe ihrer Politik, die bis heute gilt, verkündet: „die Amerikaner in Europa zu halten, die Deutschen unten zu halten, die Russen außerhalb Europas zu halten“ – „to keep Americans in, to keep Germans down, to keep Russians out“.

Einer der Wesenszüge der amerikanischen Politik wurde das „Rapallo-Syndrom“, das heißt die Verhinderung jeglicher Annäherung zwischen Rußland und Deutschland. Aber selbst in den Jahren der schärfsten Konfrontation im Kalten Krieg legte die Bundesregierung von Adenauer großen Mut und Weisheit an den Tag, indem sie dem Nachlaß von Otto Fürst Bismarck folgte: „Niemals den Draht nach Rußland abreißen lassen.“ Ungeachtet der Hallstein-Doktrin, ungeachtet der außenpolitischen Westbindung der Bundesrepublik machte sich Adenauer 1955 auf den Weg nach Moskau, um diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Der am 15. September 1955 geschlossene Vertrag hatte eine historische Bedeutung sowohl für die beiden Länder als auch für das übrige Europa.

Adenauer hat sich dahingehend geäußert, daß die Spaltung seines Landes, das heißt auch Europas, den nationalen Interessen und dem Frieden auf dem europäischen Kontinent nicht dienen kann. Im Grunde genommen widersprach die damalige geopolitische Situation in Europa auch den nationalen Interessen Rußlands. In der ersten Linie war sie für die USA vorteilhaft. Die Spaltung des Kontinents erlaubte ihnen, gegen die Sowjet-union die aus den Westmächten bestehende Koalition zusammenzuzimmern und ihre Herrschaft über Europa herzustellen.

Das hat Stalin, obwohl mit großer Verspätung, begriffen. Die Tatsache bleibt bestehen, daß er es bis Anfang 1952 vorzog, für die deutsche Einheit einzutreten. Dies fand seinen Niederschlag in der sowjetischen Außenpolitik, bis die Westmächte die sowjetische Note vom 10. März 1952 zurückwiesen, die (in Ergänzung zu anderen Initiativen Moskaus) vorschlug, die deutsche Wiedervereinigung auf die Tagesordnung der Politik zu setzen. Erst nach der Absage des Westens faßte die sowjetische Führung den Beschluß zum Aufbau des Sozialismus in der DDR und zur Abgrenzung zwischen den beiden deutschen Staaten.

Es ist eine historische Tragödie, daß das deutsche und das russische Volk in allen drei Weltkriegen (zwei heißen und einem „kalten“) gegeneinander standen, statt ihre riesigen geistigen und materiellen Ressourcen der friedlichen Schöpfungsarbeit im eigenen und im gesamteuropäischen Interesse dienlich zu machen. Die Periode vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende des Kalten Krieges habe ich „den tragischen Zyklus der europäischen Entwicklung“ genannt. Nach dem Ende des Kalten Krieges sieht sich Europa mit einem neuen „tragischen Zyklus“ konfrontiert. Man weiß nicht, wie er dieses Mal für die Menschheit endet.

Michail Gorbatschow schrieb in seinem Buch „Wie es war“, die „bösen Kräfte“ hätten Deutschland und Rußland gehetzt und sie gegeneinander getrieben. Im We-sten und in Rußland gab es eine Menge von Publikationen, in denen anhand von Tatsachen dargestellt wurde, wie die Finanzmagnaten der USA und Englands Hitler finanzierten, um ihm die Machtergreifung zu ermöglichen. 1935 bewunderte Winston Churchill die Erfolge von Hitler und schrieb über ihn: „Die Geschichte ist reich an Männern, die mit Hilfe dunkler Taten an die Macht gekommen sind, die aber, wenn man ihr Leben in seiner Gesamtheit betrachtet, trotzdem als große Gestalten gelten dürfen, die die Geschichte der Menschheit bereichert haben. Ein solcher Mann könnte Hitler sein …“ Der Historiker Leo Sievers hat hervorgehoben, daß Churchill dieses Loblied in dem Glauben geschrieben habe, in dem erklärten Anti-Marxisten Hitler einen Verbündeten im Kampf gegen die Sowjetunion gefunden zu haben.

Mitte der 1980er Jahre, als die Reformen von Gorbatschow in Angriff genommen wurden, stellte sich der sowjetischen Außenpolitik in aller Deutlichkeit die Frage, wie der Kalte Krieg und die Hochrüstung beendet werden könnten. Sie wurden zu einer untragbaren Last für die sowjetische Gesellschaft. Gorbatschows Reformen waren mit dem Kalten Krieg unvereinbar. Eben dieser Kurs entsprach den nationalen Interessen der Sowjet-union und der Reformierung ihrer gesellschaftlichen Ordnung.

Das Schlüsselproblem in der Meisterung dieser Aufgaben lag natürlich darin, die Möglichkeiten zur Überwindung der deutschen Teilung herauszufinden. Die Lösung des deutschen Problems hing vor allem von der Einstellung der Sowjetunion und der USA ab.

Mit der Klärung dieser Frage wurden auch wissenschaftliche Experten beauftragt, die viel freier und ungebundener als offizielle Beamte des Außenministeriums in ihren Einschätzungen und Gutachten für die Führung waren. So fand im Juli 1988 in Washington und im Juli 1989 in Moskau ein sowjetisch-amerikanischer Dialog statt zum Thema: „Die Bedeutung und die Rolle Osteuropas bei der Minderung der Spannung in den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den USA“. Auf der US-Seite nahm neben vielen anderen der bekannte Sicherheitsexperte Zbigniew Brzezynski teil.

Wie stellten wir (die sowjetischen Teilnehmer) uns eine neue internationale Ordnung in unseren Thesen zur Diskussion vor? Wir gingen davon aus, daß die demokratischen Reformen in der Sowjetunion zur Entstehung einer qualitativ neuen europäischen Ordnung, zur Überwindung der Spaltung Europas führen könnten.

Die Teilung Europas in Einflußsphären und Blöcke zwischen der Sowjetunion und den USA wurde von uns als ein gefährlicher Anachronismus bezeichnet. Am günstigsten für die Überwindung der Spaltung Europas schien uns eine konsequente Annäherung seiner beiden Teile auf der Grundlage einer schrittweisen Annäherung. Der Westen dürfe die Wiederkehr Rußlands in die europäische Zivilisation nicht behindern. Ausschlaggebend für die Einheit Europas sei eine allmähliche Beseitigung der Teilung Deutschlands und die Bildung eines geeinten deutschen Staates, so unsere Überzeugung.

Die amerikanischen Teilnehmer des Dialogs, darunter auch Brzezynski, begrüßten die Ideen der sowjetischen Delegation. Wie sich später jedoch herausstellte, hatte die amerikanische Administration ganz andere Absichten, die mit den Interessen Europas nicht übereinstimmten.

Besondere Aufmerksamkeit wurde in unseren Sitzungen der deutschen Frage geschenkt. In dem sowjetischen Diskussionspapier hieß es unter anderem zu diesem Thema: „Niemand darf für die Deutschen über ihr Schicksal entscheiden. Aber seit ihrer Entstehung trägt diese Frage nicht so sehr einen nationalen, zur Zeit kann man sagen, nicht so sehr einen bilateralen, sondern einen internationalen Charakter. Mit ihrer Zukunft verbinden viele Länder ihre Hoffnungen und ihre Besorgnisse. Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung beider deutscher Staaten nebeneinander, unter Erweiterung ihrer Bindungen und Annäherung zueinander, kann eine für alle annehmbare Form eines einheitlichen Staates spontan und evolutionär entstehen. Möglich sind auch die Ausarbeitung und Anerkennung eines internationalen Status, der für die Nachbarn und Verbündeten akzeptabel ist … Es ist möglich, daß der Tag nicht allzu fern ist, da die ,deutsche Frage‘ auf die Tagesordnung der gesamteuropäischen Politik gesetzt und zum Gegenstand der multilateralen Konsultationen wird.“

Das Dokument wurde im April 1988 verfaßt und zeugt davon, daß der Anstoß zur Lösung der deutschen Frage von der Sowjetunion ausging. Die Ideen dieses Dokuments habe ich noch früher als Vorsitzender des Wissenschaftlich-Konsultativen Beirates beim Außenministerium auf seiner Sitzung im November 1987 dargelegt. Zum ersten Mal seit den sowjetischen Initiativen der 50er Jahre wurde vorgeschlagen, die sowjetische Deutschlandpolitik von überholten ideologischen Stereotypen zu reinigen und die Frage der deutschen Wiedervereinigung auf die Tagesordnung zu setzen. Das begründete ich nicht nur mit der Notwendigkeit, mit dem Kalten Krieg und mit der Hochrüstung Schluß zu machen, sondern auch mit den alarmierenden Tendenzen im Leben der DDR, die auf eine tiefe politische, wirtschaftliche und soziale Krise hindeuteten und auf die Unfähigkeit der Honecker-Führung, sie abzuwenden. Meine Ideen wurden von den anwesenden Diplomaten einer scharfen Kritik unterzogen und zurückgewiesen.

Aber der Gang der Ereignisse forderte unerbittlich flexible und mutige Entscheidungen. Sie wurden leider nicht getroffen. Es ist eine Tatsache, daß die sowjetische Politik, wie übrigens die westdeutsche, durch die Volksbewegung für die deutsche Wiedervereinigung überrascht wurde. Nachdem die Berliner Mauer gefallen war, forderten einige Hitzköpfe in der Internationalen Abteilung des ZK, sie durch Gewaltanwendung wiederaufzurichten und die Volksbewegung ähnlich wie 1953 niederzuschlagen. Zum Glück hat Gorbatschow diese Forderungen zurückgewiesen. Andernfalls hätte es zu einem letzten Weltkrieg kommen können, der den Untergang der menschlichen Zivilisation hätte bringen können. Die Wiedervereinigung Deutschlands ging friedlich vonstatten. Das war ein großes Verdienst der Gorbatschow-Politik.

Die ungekürzte Fassung dieses Aufsatzes ist erhältlich bei: Unser Land, 82305 Starnberg, Postfach 1555, Fax (0 81 51) 2 707 05, info@unser-land.de. Inkl. Versand kostet sie 5 Euro.

Die USA profitierten mehr von Jalta und Potsdam als Russland

"Niemand darf für die Deutschen über ihr Schicksal entscheiden"

Harter Schlag für den Westen: Am Rande der internationalen Wirtschaftskonferenz in Rapallo (Genua) kam es zu Sonderverhandlungen zwischen der deutschen und der sowjetischen Regierung am 16. April 1922. Mit dem von Reichskanzler Joseph Wirth (2.v.l.) und Außenminister Walther Rathenau unterzeichneten Abkommen nahm Deutschland seine 1918 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland wieder auf. Beide Seiten verzichteten gegenseitig auf Ersatz der Kriegskosten. Damit wurde Artikel 116 des Versailler Vertrags hinfällig. Foto: pa


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren