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28.01.06 / "Schon wieder sind die Russen da!" / Die Amerikaner gingen, die neuen Besatzungstruppen kamen und mit ihnen die Verhaftungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 28. Januar 2006

"Schon wieder sind die Russen da!"
Die Amerikaner gingen, die neuen Besatzungstruppen kamen und mit ihnen die Verhaftungen
von C. Schulz-Jedamski

Diesmal wurden keine weißen Laken mehr aus dem Fenster gehängt, als US-Soldaten in die Stadt einmarschierten. Sie kamen als Sieger, und viele waren froh, daß der Krieg endlich zu Ende war. Die amerikanischen Besatzungsmächte fuhren nun nach einem Vierteljahr zum einen Stadttor hinaus, die russischen Besatzungsmächte kamen unverhofft durch das andere herein. Mit ihren dröhnenden Ketten rumpelten ihre Panzer amerikanischer Herkunft auf dem Straßenpflaster entlang, gefolgt von Panjewagen, gezogen von kleinen struppigen und erschöpften Pferdchen. Voller ungläubigem Erschrecken verfolgten die Einwohner den Einmarsch der neuen Besatzung.

In wenigen Minuten würde die Sperrstunde zu Ende sein, und einzelne Bürger, die auf dem Wege nach Hause waren, staunten nicht schlecht – gestern hatten sie noch die Amerikaner mit ihren Jeeps in den Straßen gesehen, heute die Russen mit ihren Panjewagen. Wie ein Lauffeuer ging das Gesehene durch die Stadt und jeder versuchte in seiner Angst in seiner Behausung zu bleiben. Es war klüger abzuwarten, was die neuen Besatzer mit der Bevölkerung vorhatten!

Im Nu war das Städtchen von der siegreichen Roten Armee eingenommen. Die einfachen Soldaten biwakierten auf großen Plätzen, in Gärten, in Parks und auf breiten Straßen. Einige Häuser mußten eiligst für die Offiziere geräumt werden, bis sich in wenigen Tagen langsam ein Viertel herausschälte, wo Offiziere ihre Bleibe hatten. Die Straßen wurden abgesperrt und mit einem hohen Bretterzaun abgeriegelt. Die Russen hatten also jetzt ein eigenes Stadtviertel, die Amerikaner hatten vorher ihre Domizile in der ganzen Stadt verstreut. Mannschaften wurden in schnell erbauten Baracken untergebracht, oder bezogen die ehemaligen Unterkünfte der Ostarbeiter von den Siemens-Schuckardt-Werken. So entstand auch der Kommandanturbereich, von wo aus der Fortgang des wirtschaftlichen Lebens und der staatlichen Verwaltung seinen Neuanfang nahm.

Bald gab es auch die lang befürchteten Verhaftungen. Bewohner, kampagnemäßig abgeführt, wurden den Sowjets überstellt. Es wurde denunziert und denunziert – viele von den Verhafteten kamen aus den Gefängnissen und Lagern in Deutschland und der UdSSR nicht mehr zurück. Auch das war ein Alptraum der Bevölkerung in dieser Zeit, neben Hunger und Ungewißheit. Frauen und Kinder standen an jedem Laden, wo es geringe Lebensmittelzuteilungen auf Karten gab, in langen Schlangen an.

Und eines Tages kam Mutter vom Anstehen nicht mehr zurück. Sie blieb verschwunden. Wir Kinder weinten vor Kummer und vor nicht endender Angst, jetzt waren wir wieder allein und wußten nicht, was zu tun war. Anderntags nahm die Große die kleine Schwester an die Hand und sie gingen gemeinsam zur Kommandantur. Die Wachsoldaten ließen sie durch und sahen ihnen gelangweilt hinterher. Sie klopften an viele Türen, es wurde nicht aufgemacht. Ratlos standen sie im langen Flur.

Plötzlich öffnete sich doch noch eine Tür und eine Russin in Uniform mit vielen Ordensspangen näherte sich den Kindern. Ihre Militärstiefel quietschten und knarzten auf dem Linoleumfußboden, der riesige Busen wogte, er wurde durch einen Gürtel in der Taille über der Uniformbluse in Form gehalten, und ihr wütendes Gesicht unter dem Käppi verhieß nichts Gutes. Mit einem Schwall russischer Worte wollte sie die Kinder fortscheuchen, aber die Große hielt die kleine Schwester eisern umklammert und fragte immer wieder nach ihrer Mutter. Da schlug die Russin zu, erbarmungslos und heftig, bis die Große wimmernd zusammenbrach und auf den Fußboden stürzte. Beide Kinder schrieen herzzerreißend, bis ein Stiefeltritt ins Gesicht der Großen für Ruhe sorgte. Leblos lag sie im Flur, ihre kleine Schwester beugte sich über sie, sie zitterte vor Angst und großem Schrecken und schrie, schrie bis ihre Stimme versagte. Langsam kam die Große zu sich und auf allen Vieren kroch sie zum Ausgang. Draußen auf der Treppe wischte sie sich das Blut aus dem Gesicht, sie konnte keinen Schritt mehr gehen. Also blieben sie die Nacht über draußen an irgendeinem Zaun versteckt sitzen.

Die kleine Schwester weinte sich in den Schlaf, die Schwester umklammernd. Müde, hungrig, verfroren durch die Kühle der Nacht, setzen sich die beiden am frühen Morgen auf die Treppenstufen der Kommandantur. Viele russische Soldatenstiefel liefen an ihnen vorbei, treppauf, treppab, keiner kümmerte sich um die beiden. Zwei Soldaten taten es dennoch, indem sie der Großen ihre Armbanduhr abnahmen, und beide ihre Schuhe, die einzigen, die sie noch hatten, hergeben mußten. Müde, barfuß und zerschlagen mußten sie ihren Heimweg antreten, ohne ihre Mutter!

In ihrer Unterkunft wurden sie schon vermißt und eine ältere alleinstehende Flüchtlingsfrau nahm sich ihrer an. Der Kleinen ging es dann etwas besser, doch die Große war störrisch und verweigerte alles. Sie ging auch nicht zur Schule, sondern irrte irgendwo draußen herum, bis es dunkel wurde. Sie wartete auf die Mutter, auf den Vater – aber die kamen nicht!

Es wurde Winter, regnerisch und kalt. Auch der Hunger wurde größer, und wenn das Anstehen beendet war, krochen die Kinder vor Erschöpfung und Mutlosigkeit auf ihre gemeinsame Lagerstatt auf dem Fußboden und weinten sich in den Schlaf. Dann gab es eines Tages eine Volksküche für Arme, Heimkehrer, Flüchtlinge und andere Gestrandete. Sie alle stellten sich in eine lange Schlange mit ihrem ausgebeulten Kochgeschirr, um eine Kelle warme Suppe und ein Stück Brot zu ergattern. So verging jeder Tag – eine Zeit der Verschlagenheit, Übervorteilung, Demütigungen und großer Hoffnungslosigkeit!

Die Große ging inzwischen sporadisch zur Schule; sie hatte keine Bücher, keine Hefte, keinen Federhalter. Mit einem gefundenen Bleistiftstummel, auf Zeitungsrändern und geklauten Plakaten wurden Schularbeiten gemacht. In der Klasse wurde sie verachtet, aber geduldet, vom Lehrer als Polackin beschimpft, von den Mitschülern geschnitten, wurden ihr Schulbücher verweigert. Großes Herzeleid überkam sie, wie sehr wünschte sie sich eine Freundin. Sie beneidete die einheimischen Kinder, die fast alles hatten, aber mit ihr nicht einmal die Schulbücher teilen wollten. So zog sie sich von allem zurück.

Aber dann kam für die beiden ein Freudentag – die Mutter war nach langer Zeit wieder da! Nur war sie sehr krank und konnte den Kindern keine Stütze sein. So nahm die Große ihre Stelle ein und versuchte die Verantwortung so gut es ging zu meistern. Auf den Dörfern bettelte sie, arbeitete auf den Feldern für ein paar Kartoffeln, ein Stück Brot, einen halben Liter Milch. Alles lieferte sie zu Hause ab, teilte es ein für Mutter und Schwester. Aber das reichte nicht, der Hunger war zu groß! Da fing sie an zu organisieren, zu lügen, zu stehlen: Sie erkannte keine Ordnungsregeln mehr an, sie rebellierte – sie war eine Ausgegrenzte, also handelte sie auch danach.

Tag für Tag das gleiche Elend. Sie durfte ihrer Mutter nicht zeigen, wie es in ihr aussah, und wie oft sie vor Verzweiflung, Überforderung, und Zorn weinte. Und immer wieder die unüberwindbare Angst, auf den Straßen den Rotarmisten zu begegnen, die gestohlenes Gut aus den Häusern trugen. Die ganz wild auf Uhren, Fahrräder waren und die Menschen willkürlich verhafteten und mit sich schleppten und die dann irgendwohin verschwanden! Schon von weitem die Uniform eines Russen zu erkennen, brachte der Großen eine nicht zu unterdrückende Übelkeit. Sie fing an zu zittern, Schweiß brach aus; sie konnte den Einmarsch der Sieger in Ostpreußen einfach nicht vergessen. Dieser eklige Geruch in der Nase von schweißgetränkten, schmutzigen, dreckstarrenden Uniformen, die sich über sie warfen – ein so rabiater Schock und diese brutale Gewalt, auf ewig sollte dies Geschehen sie begleiten.

Auf den Straßen wurden Männer mit vorgehaltener Kalaschnikoff eingefangen, um die restlichen Unternehmen zu demontieren. Auf den Bahnhöfen standen lange Güterzüge bereit, die mit dem Beutegut und dem dazugehörenden Fachpersonal nebst Familien beladen wurden und dann nach Rußland fuhren. Die kleine Stadt hielt den Atem an, sie hatte genug von den plündernden Siegern. Die Bürger verharrten in ihrem Unglück, und der Zustand hielt noch Jahre an, aber mit der Zeit wuchs eine neue Lebensform aus den Ruinen.

In der Klasse wurde die Älteste verachtet, vom Lehrer als "Polackin" beschimpft


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