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18.02.06 / Europäische "Gedenkkultur"

© Preußische Allgemeine Zeitung / 18. Februar 2006

Gedanken zur Zeit:
Europäische "Gedenkkultur"
von Ulrich Schacht

Vor einem knappen Jahr, auf einer Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald durch amerikanische Truppen, ermutigte der ehemalige Buchenwald-Häftling und heutige weltberühmte spanische Schriftsteller Jorge Semprun Europa, endlich die "halbseitige Lähmung" aufzugeben, die die Öffentlichkeit des Kontinents noch immer angesichts der Opfermassen der beiden totalitären Groß-Systeme des 20. Jahrhunderts befalle.

Semprun meinte damit nichts anderes als die offensichtliche, vor allem in Deutschland gepflegte Asymmetrie, wenn es darum geht, beiden Opfergruppen mit demselben Maß an Einfühlung und politisch flankierter Gedenkkultur zu begegnen: Mithin das Ungleichgewicht zuungunsten der Opfer des kommuni-stischen Herrschafts- und Vernichtungssystems, wie es seit 1917 in der Sowjetunion und nach 1945 auch in weiten Teilen Ost- und Mitteleuropas existierte, aufzugeben.

Jorge Semprun, der als Opfer des NS-Systems und einstiger hoher Funktionär der stalinistisch geprägten spanischen KP nun wahrlich genau weiß, wovon er spricht, richtete seinen Appell nicht zuletzt vor dem Hintergrund des "kürzlich erfolgten Beitritts von zehn neuen Ländern" des europäischen Ostens zur EU an die Öffentlichkeit. Diese europäische Einigung könne "kulturell und existentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und verei-nigt haben werden". An dieser Sicht Sempruns ist insofern alles richtig, als sie aus den unbestreitbaren historischen Fakten die einzig mögliche moralische Konsequenz zieht, die ein Mensch ziehen kann, der sich einer ungeteilten humanen Orientierung verpflichtet weiß. Alle ideologisch forcierte oder aus anderen unlauteren Motiven gespeiste Auf- und Abrechnung, die sich in Vergleichsverboten oder Leugnungsorgien gefällt, ist nicht nur unwissenschaftlich, sie ist auch frivol und geht in letzter Konsequenz am Würdegebot des Grundgesetzes vorbei, das sich in einem gewissen Sinne durchaus rückblickend verhält und somit auch die Opfer würdeloser politischer Zustände im politischen Raum jüngerer deutscher Geschichte in ihre ethische Norm mit einschließt. Solches ist zu erinnern, angesichts mancher Kritik am Entwurf für eine "Stiftung Gedenkstätten", den die Landesregierung von Sachsen-Anhalt kürzlich vorgelegt hat. Hier wiederholt sich nicht nur das einschlägige Propagandagetöse aus den VVN-Restbeständen der untergegangenen SED-Diktatur und ihrer westdeutschen Organisationsableger, wie wir es schon im Falle des sächsischen Gedenkstätten-Gesetzes erlebt haben.

Hier spreizen sich auch Vertreter einer Generation westdeutscher Zeithistoriker und 68er-Politiker, die sich seit Beginn der 70er Jahre in einem prinzipiellen Anti-Antikommunismus gefallen und in diesem nicht zuletzt profitlich orientierten Zusammenhang (viele von ihnen halten Universitätslehrstühle besetzt, mediale wie politische Hoch- und Horchposten, leiten Gedenkstätten, bildungspolitische Einrichtungen oder arbeiten Politik und Verfassungsschutz zu) begannen, aus deutscher Geschichte die bloße Vor- und Nachgeschichte der Nazizeit zu machen, aus dem kommunistischen System aber eine antifaschistische Alternative dazu. Gleichzeitig diffamierte man die Totalitarismus-Theorie und ihre Vertreter, darunter Hannah Arendt, die mit analytischer Schärfe Nationalsozialismus und Internationalsozialismus als erstaunlich vergleichbare Terror-Größen überführten, als unwissenschaftlich und reaktionär. Ihre "Argumente" liehen sie sich dabei vor allem von Gesellschaftswissenschaftlern der DDR, die noch 1985 eine letzte große Kampfschrift gegen "Die Totalitarismusdoktrin im Antikommunismus" vorlegten. Sie erschien, wenige Jahre vor Öffnung aller Schreckensarchive zwischen Ost-Berlin und Moskau, im SED-eigenen Dietz Verlag. Es lohnt sich, eine Schrift wie diese heute erneut aufzuschlagen. An ihrer massiv die eigene Verbrechensgeschichte leugnenden Apologie kann man ablesen, wie ideologisch verbohrt zahlreiche Vertreter einer ganzen Generation von Intellektuellen aus Westdeutschland sind, die zugleich vehement bestreiten würden, Propaganda einer unter-gegangenen Diktatur zu verbreiten. Von anderen MfS- und GULag-Relativierern gar nicht zu reden.


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