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18.02.06 / Die Hölle hinterm Kasernentor / Geschlagen, getreten, verstümmelt: Das Martyrium eines 19jährigen Rekruten schockt ganz Russland

© Preußische Allgemeine Zeitung / 18. Februar 2006

Die Hölle hinterm Kasernentor
Geschlagen, getreten, verstümmelt: Das Martyrium eines 19jährigen Rekruten schockt ganz Russland
von Manuela Rosenthal-Kappi

Sie treten durch Brutalität und Unmenschlichkeit in Erscheinung, sie quälen Menschen auf sadistische Weise und töten, sie verbreiten Angst und Schrecken. Das haben viele Menschen während Flucht und Vertreibung oder im GULag am eigenen Leib erfahren müssen. Die Erinnerung an die Soldaten der Roten Armee während des Zweiten Weltkriegs ist in den Köpfen zahlloser Deutscher als das düsterste Trauma ihres Lebens haftengeblieben.

Daß heute, 15 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion, Mißhandlungen an jungen Soldaten in der russischen Armee zur Tagesordnung gehören, davon hat man vielleicht schon einmal gehört. Hin und wieder berichten deutsche Journalisten darüber. Auch daß es in der Folge Todesfälle gegeben hat. Russische Medien berichten eher selten darüber. Zu wenig dringt zu ihnen durch, oder sie wagen es nicht, ein solch heikles Thema aufzugreifen.

Das hat sich Ende Januar auf einen Schlag geändert, als der Fall des 19jährigen Andrej Sytschew an die Öffentlichkeit gelangte, der in der Neujahrsnacht von älteren Soldaten - darunter zwei Offizieren - über vier Stunden lang gequält wurde. Er mußte in der Hocke ausharren, bei der kleinsten Bewegung schlugen sie ihm auf die Beine. So sehr, daß ihm drei Tage später beide Beine, die Genitalien und ein Finger amputiert werden mußten. Das abscheuliche Drama ereignete sich in einer Kaserne der Panzerschule Tscheljabinsk im Ural.

Die Ärzte im Militärlazarett hatten das Opfer zunächst sogar noch beschwichtigt, als es über heftige Schmerzen in den Beinen klagte. Erst als der Soldat das Bewußtsein verlor, überführten sie ihn ins städtische Krankenhaus, wo festgestellt wurde, daß der Wundbrand bereits so weit fortgeschritten war, daß die Extremitäten des jungen Mannes nicht mehr gerettet werden konnten. Sein Zustand war bis Redaktionsschluß dieser Zeitung kritisch. Inzwischen wurde Andrej Sytschew mit einer Militärmaschine nach Moskau geflogen, wo ein Ärzteteam um sein Leben kämpft.

Die Öffentlichkeit erfuhr erst drei Wochen später von dem Vorfall. Eine Frau hatte anonym einen Hinweis an das "Komitee der Soldatenmütter Rußlands" gegeben. Die Presse und das Fernsehen berichteten. Das Militär konnte den Fall nun nicht mehr unter den Teppich kehren.

Der russische Verteidigungsminister Sergej Iwanow befand sich zu diesem Zeitpunkt auf Dienstreise im Kaukasus. Ihm war zunächst nichts von dem Vorfall gemeldet worden. Der Minister erfuhr selbst erst durch die Presse vom Martyrium des jungen Rekruten. Erst Tage später reiste Iwanow persönlich nach Tscheljabinsk, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Er ordnete eine strafrechtliche Untersuchung und harte Bestrafung der Verantwortlichen an. Der Kommandeur der Panzerschule wurde entlassen, acht mutmaßliche Täter verhaftet.

Auch Präsident Wladimir Putin meldete sich zu Wort. Er versprach, dem Opfer jede mögliche staatliche Hilfe für seine Rehabilitation und eine Rente zukommen zu lassen.

Andrej Sytschew wurde ein Opfer der sogenannten "Dedowschtschina", das ist die Herrschaft der "Großväter", bedeutet: der dienstälteren Soldaten. Ein perverses Disziplinierungsritual, das es früher schon gab, im Stalinismus, in den GULags. Soldaten haben im ersten Dienstjahr keine Rechte, sie werden von ihren Kameraden wie Sklaven behandelt. Menschenrechtsorganisationen prangern die "Dedowschtschina" schon seit Jahren als Folter an und fordern ihre Abschaffung. In russischen Militärkreisen ist sie hingegen weitestgehend akzeptiert. Offiziere behaupten, sie hätten keine andere Möglichkeit zur Disziplinierung ihrer Truppe. Seit 2002 ist es nämlich verboten, Einzelarrest ohne vorherige Gerichtsverhandlung zu verhängen, weil dies gegen die internationalen Menschenrechte verstößt, zu deren Einhaltung Rußland sich verpflichtet hat. Auf den "Papierkram" hat aber niemand Lust. Deshalb wird weiter geprügelt.

Wladimir Putin und Verteidigungsminister Iwanow stehen in der Pflicht. Seit Jahren haben sie tiefgreifende Reformen des russischen Militärs angekündigt, bisher aber die dafür notwendigen Mittel nicht zur Verfügung gestellt. Jetzt steht nicht nur das Ansehen der Armee auf dem Spiel, sondern auch der An-spruch des Landes, als Demokratie und Weltmacht gesehen zu werden.

Der Schaden ist beträchtlich. Die Bevölkerung steht unter Schock. Viele fragen sich, wie eine Armee das Land verteidigen soll, deren Offiziere weder Pflichtbewußtsein noch Verantwortung und Achtung vor den eigenen Soldaten verspüren. Daß der Fall Sytschew kein Einzelfall ist, wissen alle. Viele Mütter haben Söhne, die zum Militär sollen. Wer es sich leisten kann, läßt seinen Sohn studieren oder kauft ihn frei. Vor der Einberufung versuchen mittellose Eltern ihre Söhne zu verstecken oder beknien Ärzte, ihnen Krankheiten zu bescheinigen. Die Folge ist, daß nur ein Drittel jedes Jahrgangs tatsächlich eingezogen wird. Es sind die Söhne armer Familien und die weit entlegener ländlicher Regionen, die dienen müssen. Viele von ihnen kehren nie mehr zurück.

Die Statistik belegt das Ausmaß der katastrophalen Zustände beim russischen Militär. 2005 geschahen als Folge der "Dedowschtschina" 16 Morde, 276 junge Wehrpflichtige wurden in den Selbstmord getrieben, dazu kamen die Unfälle, von denen die Militärbehörden 30 Tote der "Unachtsamkeit" zuordneten, weitere 276 bezeichneten sie als "unglückliche Zufälle", also alles Selbstverschulden. 20 Prozent der Fälle werden gar vertuscht; die Angehörigen erfahren die tatsächliche Todesursache nie.

Der Vorfall in Tscheljabinsk hat die gesamte russische Öffentlichkeit aufgerüttelt. In Moskau und St. Petersburg gingen Menschen auf die Straße, um gegen Militär und Politik zu protestieren. Soldatenmütter machten mobil. Sie forderten den Rücktritt von Verteidigungsminister Iwanow.

Der Generalstaatsanwalt der Russischen Föderation, Wladimir Ustinow, hielt am 3. Februar vor seinen Kollegen der Generalstaatsanwaltschaft und Präsident Putin eine Rede. Zerknirscht räumte er ein, daß die Staatsanwaltschaft gegen die Kriminalität in der Armee nichts ausrichten könne. Er sprach von Diebstählen in erheblichem Ausmaß, bei Panzereinheiten betrage der Schaden 60 Millionen Dollar. Neben Munition würden sogar ganze Panzer verschoben. Allein 2005 zog die Staatsanwaltschaft 16000 Militär-angehörige gerichtlich zur Verantwortung, hauptsächlich Offiziere. Es befanden sich auch 100 Kommandeure von Militäreinheiten sowie acht Admirale und Generale unter den Angeklagten.

In allen Einheiten wird militärisches Diebesgut verramscht. Ein Regimentführer nahm fünf Millionen Rubel (rund 150000 Euro) für elektronisches Gerät ein, das er im Fernen Osten verkaufte. In einem anderen Militärstützpunkt stahl eine Gruppe Soldaten drei Jahre lang Kerosin im Wert von 50 Millionen Rubel (rund 1,5 Millionen Euro). Im Königsberger Gebiet bestellten drei Offiziere der Baltischen Flotte Dieselmotoren für diverse Schiffe, die sie dann nach Polen weiterverkauften, anstatt sie in die eigenen Schiffe einzubauen.

Ustinow berichtete ebenso von Sklaverei: Offiziere verkauften ihre Untergebenen an den eigenen Kommandeur, für den sie dann unbezahlte dienstfremde Arbeiten verrichten müßten. Sie würden zu zivilen Bauarbeiten herangezogen, wo es nicht selten aus Unerfahrenheit zu tödlichen Unfällen komme. Im Bericht wird dies mit der Bezeichnung "Unfall in der Freizeit mit Todesfolge" verschleiert.

Ustinow nennt in seinem Bericht wesentlich höhere Todesfallziffern als die bisher veröffentlichten. Dabei weichen die Zahlen des Verteidigungsministeriums von denen der Staatsanwaltschaft ab. Das Ministerium spricht von 1170 "Menschenverlusten" in den Streitkräften insgesamt, die Staatsanwälte hingegen beziffern 1067 Todesfälle allein in Folge eines Verbrechens und insgesamt 1300 Tote.

Daß dringend etwas geschehen muß, bezweifelt niemand. Allerdings könne die Staatsanwaltschaft wenig verrichten, sagte Ustinow, solange es in der Armee selbst keine Bereinigung gebe, und Offiziere nicht die Wahrheit sagten. Er fordert den denkbar radikalsten Schnitt: Der Staat müsse das gesamte Offizierswesen durch ein neues ersetzen.

Präsident Putin schwebt zur Lösung des Problems die Gründung einer Militärpolizei vor. Er hat die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert, härter gegen kriminelle Handlungen in der Armee vorzugehen. Dem Schutz der persönlichen Rechte der Dienenden soll in Zukunft mehr Rechnung getragen werden. Bereits im vergangenen Jahr unterzeichneten der Verteidigungsminister und der Bevollmächtigte des Präsidenten für Menschenrechte zwar ein Memorandum über die Zusam-menarbeit, aber bislang gewährte das Verteidigungsministerium keinem Menschenrechtler Einblick in die Streitkräfte.

Die Ende Januar neu gegründete Gesellschaftskammer (ein Rat von zehn Personen - darunter Vertreter des Schriftstellerverbands und Menschenrechtler -, der das gesellschaftliche Leben wie die Arbeit von Beamten und die Wahrung der Pressefreiheit kontrollieren soll) nahm den jüngsten Skandal in der Armee zum Anlaß für ein erstes Treffen. Die Kammer stellte einen Elf-Punkte-Katalog mit Lösungsvorschlägen auf, in dem sie unter anderem die sofortige Abschaffung der "Dedowschtschina" und eine Erhöhung der Offiziersgehälter vorschlägt. Darüber hinaus müßten Offiziere in speziellen Elite-Instituten geschult werden. Die Kammer verlangt die Einrichtung eines psychologischen Dienstes, der nicht dem Verteidigungsministerium, sondern dem Justizministerium unterstellt sein solle. Den Einsatz einer Militärpolizei hält die Gesellschaftskammer hingegen nur dann für sinnvoll, wenn sie unabhängig vom Verteidigungsministerium arbeiten könne.

Alle diese Vorschläge nützen dem "Dedowschtschina"-Opfer Andrej Sytschew nichts mehr. Er wird zum Helden hochstilisiert werden, dessen Fall es anderen ermöglicht, daß ihre Klagen über eigenes Leid angehört werden. Seit Sytschew kommen immer mehr Fälle von Mißhandlungen aus allen Regionen des Landes vor Gericht; einige Täter wurden bereits zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Ein kleiner Lichtstreifen am Horizont.

Ob der Staat nun die längst fällige Militärreform zügig durchführen wird, ob Präsident Putin, der sich ganz dem Kampf gegen den Terrorismus verschrieben hat, nun auch den Terror in den eigenen Truppen bekämpfen wird, bleibt offen.


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