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01.04.06 / Er begründete die Innere Mission / Vor 125 Jahren starb Johann Hinrich Wichern, ein "Franziskus auf Hamburger Untergrund"

© Preußische Allgemeine Zeitung / 01. April 2006

Er begründete die Innere Mission
Vor 125 Jahren starb Johann Hinrich Wichern, ein "Franziskus auf Hamburger Untergrund"
von Manuel Ruoff

Johann Hinrich Wichern kam am 21. April 1808 in Hamburg als ältestes von sieben Geschwistern zur Welt. Seine Herkunft war kleinbürgerlich. Der strebsame Vater hatte sich vom Fuhrmann und Mietkutscher zum Notar und vereidigten Übersetzer hochgearbeitet. Nach dem Abitur am Akademischen Gymnasium der Hansestadt ermöglichten ihm Freunde aus der Erweckungsbewegung, die ihn ebenso wie die Romantik stark beeinflußte, von 1828 bis 1831 ein Studium der Theologie in Göttingen und Berlin. Als Student lernte er Ernst Freiherr von Kottitz und dessen Freiwillige Armenbeschäftigungsanstalt am Berliner Alexanderplatz kennen sowie Nikolaus Heinrich Julius, der sich für eine umfassende Gefängnisreform einsetzte. Auf dem Weg von Göttingen nach Berlin besuchte er in Halle die von August Hermann Francke gegründete Waisenanstalt.

Die sozial engagierten Predigten des Pastors an der Dreieinigkeitskirche Johann Wilhelm Rautenberg in Hamburgs Vorstadt St. Georg beeindruckten Wichern stark, und nach dem 1831 absolvierten Examen kehrte er in seine Heimat zurück, um an der von Rautenberg gegründeten Sonntagsschule sozial schwache Kinder, die werktags einer Erwerbstätigkeit nachgehen mußten, zu unterrichten. Zusammen mit den anderen Mitgliedern eines Besuchsvereins suchte er die Kinder in deren Elternhäusern auf und erkannte dabei, daß allein der Sonntagsschulbesuch zur Rettung aus dem Elend nicht genügte.

Deshalb rief er 1833 auf der Jahresversammlung des Sonntagsschulvereins zur Gründung eines Rettungshauses auf. Da er vor seinem Studium Kindern aus der Oberschicht Privatunterricht gegeben hatte, besaß er Kontakte, die ihm nun hilfreich waren. Hamburgs einflußreicher Senatssyndicus Carl Sieveking stellte als Rettungshaus ein Gebäude samt Grundstück in Hambugs Stadtteil Horn zur Verfügung, das seit uralter Zeit den Namen "das Rauhe Haus" trug, weil ein Vorbesitzer Ruge hieß und rug / ruch die plattdeutsche Übersetzung von rauh ist. Sieveking stiftete nicht nur das Haus, sondern übernahm zusätzlich auch noch den Vorsitz im Verwaltungsrat, dem neben Pastor Rautenberg diverse Senatoren der Stadt angehörten.

Am 12. September 1833 erfolgte die Gründung des Rauhen Hauses als Rettungsanstalt und Zufluchtsstätte für verwahrloste Kinder. Wichern war dabei bemüht, die Anonymität von Verwahranstalten durch familienähnliche Strukturen zu verhindern. Eine sogenannte Familie sollte aus höchstens zwölf Kindern und einer erwachsenen Bezugsperson bestehen, die wohlweislich nicht als "Vater", sondern als "Bruder" bezeichnet wurde, um einer Beschneidung der Freiheit der Minderjährigen durch allzu hierarchische Strukturen in den "Familien" entgegenzuwirken, denn "freie Kinder in einer freien Familie" waren Wicherns Ziel

Das Rauhe Haus expandierte schnell und hatte Vorbildcharakter weit über Hamburgs Grenzen hinaus. Schon 1834 mußten zusätzliche Häuser errichtet werden. Es wurde eine förmliche "Brüder"-Ausbildung organisiert, wobei über den eigenen Bedarf hinaus auch für befreundete Einrichtungen ausgebildet wurde. 1842 wurde eine eigene Druckerei eröffnet und 1844 eine Verlagsbuchhandlung. 1874 wurde ein eigenes Schulgebäude für die anstaltseigene Schule gebaut, das so groß dimensioniert war, daß auch anstaltsfremde Kinder dort unterrichtet werden konnte. Auch auf diese Weise sollte einer die Entfaltungsfreiheit hemmenden Ghettoisierung der Kinder des Rauhen Hauses entgegengewirkt werden.

Angesichts des Erfolges ist es verständlich, daß insbesondere Hamburger dazu neigen, in Wichern nur den Gründer "ihres" Rauhen Hauses zu sehen. Doch er wirkte auch außerhalb seiner Vaterstadt. Legendär ist seine eineinviertelstündige Stegreifrede auf dem Kirchentag zu Wittenberg im Revolutionsjahr 1848, die er mit soviel Schwung und Überzeugungskraft vortrug, daß die etwa 500köpfige "Versammlung von Gliedern der evangelischen Kirche Deutschlands geistlichen und nichtgeistlichen Standes" anschließend einstimmig beschloß, den angestrebten nationalen Kirchenbund mit der "Förderung christlich-sozialer Zwecke, Vereine und Anstalten, insbesondere der inneren Mission" zu beauftragen.

Hierzu wurde ein "Centralausschuß der Inneren Mission" gegründet. Der ganzheitliche Ansatz Wicherns und seine konfessionelle Toleranz, aber auch seine Kirchen- und Staatstreue werden deutlich, wenn er auf der ersten Sitzung zur Vorbereitung dieser Gründung ausführt: "1. Der Zweck des zu bildenden Centralausschusses ist: Aufrichtung und Förderung der inneren Mission in ihrem ganzen Umfange in der deutsch-evangelischen Kirche. In ihrem ganzen Umfange, also nicht beschränkt auf Rettungsanstalten oder irgendwelche einzelne Thätigkeiten. In der deutsch-evangelischen Kirche, also fern von aller proselyten-macherischer Tendenz gegen die römische Kirche. 2. Das Verhältnis der inneren Mission ist dieses, daß dieselbe die Kirche als eine göttliche Stiftung, Amt und Sakrament als göttliche Institution festhält. Also keine Störung oder Kürzung der kirchlichen Ämter durch die innere Mission. 3. Das Verhältnis zum Staate ist dieses: Die innere Mission gehört als solche keiner politischen Partei an. Sie hält aber den Begriff des Staates und der Obrigkeit als eine von Gott gesetzte Ordnung fest."

Mit seiner Mischung aus sozialem Engagement und Konservatismus, gepaart mit Einflüssen aus der Romantik war Wichern König Friedrich Wilhelm IV. nicht wesensfremd, der ihn 1857 als "vortragenden Rat für die Strafanstalten und das Armenwesen" ins preußische Innenministerium und als Oberkonsistorialrat in den Berliner Evangelischen Oberkirchenrat holte. In vielfältiger Weise war der Hamburger für Preußen tätig. Insgesamt viermal reiste er im Auftrag der preußischen Staatsregierung in das besonders von Elend betroffene Schlesien und erstattete anschließend schonungslos Bericht. Da Wicherns Fürsorge und Interesse außer Kindern auch Strafgefangenen in besonderem Maße galt, wurde er 1856 mit der Reorganisation der als Musteranstalt dienenden Strafanstalt Moabit beauftragt. Nicht zuletzt zur Ausbildung geeigneten Gefängnispersonals gründete er 1858 das Johannisstift in Berlin. Als 1864 die Einigungskriege begannen, organisierte er schließlich auch noch eine Felddiakonie.

Am 7. April 1881 erlag der Mann, den Theodor Heuss "die großartigste und wirkungsvollste Erscheinung im evangelischen Deutschland des 19. Jahrhunderts" und Friedrich Naumann einen "Franziskus auf Hamburger Untergrund" nannte, in seiner Geburtsstadt Hamburg den Folgen eines Schlaganfalls.

Johann Hinrich Wichern (1808-1881) Foto: Archiv


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