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13.05.06 / "Bloß weg hier" / Deutschland erlebt eine Abwanderungswelle

© Preußische Allgemeine Zeitung / 13. Mai 2006

"Bloß weg hier"
Deutschland erlebt eine Abwanderungswelle
von Sverre Gutschmidt

Während Politiker um Zuwanderer und ihre Integration streiten, wird Deutschland von einer steigenden Abwanderungswelle Einheimischer erfaßt. Überwiegend Arme und Ungebildete wandern zu, Gutausgebildete ab. 2004 verließen 150000 Deutsche ihre Heimat, im ersten Halbjahr 2005 78000 - Größenordnungen, die zuletzt in den harten Nachkriegsjahren erreicht wurden. Vor allem junge Top-Qualifizierte kehren dem Land den Rücken zu. Aber auch Handwerker im mittleren Alter und Fachkräfte, die in Deutschland keine Arbeit mehr finden, gehen. Das Fernsehen begleitet sie, zeigt wie ältere Bauarbeiter in Norwegen problemlos Arbeit bekommen, junge deutsche Ärzte in London dem Kassenbürokratismus entfliehen, wieder "richtig Geld verdienen". Der sogenannte "brain drain", englisch für Verlust an intelligenten, gebildeten Spezialisten, hat Deutschland erfaßt - längst nicht alle kehren zurück.

Sogar die Agentur für Arbeit fördert in manchen Branchen den beruflichen Neuanfang des einzelnen im Ausland. Nicht mehr Abenteuerlust, sondern Existenznot ist nach eigenen Aussagen das Motiv der meisten Auswanderer: Der Wunsch, überhaupt Arbeit oder eine passende Ausbildung zu finden, zumindest aber einen gewissen Lebensstandard zu halten, treibt die Menschen zum Leben in die Fremde. Vermittelte die bundeseigene Agentur 2000 noch 1936 Deutsche ins europäische Ausland, waren es 2005 bereits 6900.

Der eindeutige Trend wird indes recht zurückhaltend untersucht - Politik und Statistiker schauen nicht auf Ursachen oder Auswirkungen. So hat das Statistische Bundesamt keine Daten über die vorrangig betroffenen Berufsgruppen und die Abwanderungsgründe. Auch wer wann und aus welchen Branchen zurückkehrt, bleibt weitgehend unbeobachtet. Immerhin gibt eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (Wiesbaden) vom August 2005 Entwarnung - ein Großteil gerade der Abwanderung von Fachleuten in die USA sei nur temporär. Viele Hochqualifizierte kehrten demnach früher oder später wieder zurück. Die Studie untersucht die Entwicklung bis 2002. Es bleibt aber die Frage, warum in den letzten Jahren die Zahl der Abwanderer steigt. Zudem gibt es in manchen Branchen offenbar kaum Rückkehrer. Migrationsforscher Klaus J. Bade von der Universität Osnabrück sagt: "Vor allem bei Experten der Informationstechnologie wächst der Trend zur dauerhaften Abwanderung."

Die Daten des Statistischen Bundesamts helfen kaum, das aus Erfahrungswerten und groben "Migrationsbilanzen" bestehende Bild zu vervollständigen. 2001 ermittelte es noch einen "Wanderungsgewinn" - immerhin 84000 Deutsche kamen in jenem Jahr zurück. Der Gewinn kam jedoch schon vor fünf Jahren vor allem durch zugezogene Ausländer (188000) zustande. Deutschland ist also mit Sicherheit ein Land, in das es viele zieht - nur nicht die, die es bereits einmal verlassen haben. Sie kommen im Alter zurück oder wenn sich für sie hier eine Perspektive eröffnet - den Weg dorthin meistern sie zunehmend in der Fremde.

Zahlen des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft zeigen: 71 Prozent der deutschen Aussiedler waren 2002 zwischen 20 und 60 Jahre alt, also Abwanderer im Berufsalter und aus Berufsgründen. Derzeit müssen immer mehr die wirtschaftlich schlechten Bedingungen ihrer Heimat überbrücken. Diese Tendenz läßt keine guten Anzeichen für den Standort als Lebens- und Arbeitsplatz erkennen. Daß die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt sich womöglich entspannt - kleine Konjunkturbelebung hin oder her -, hat keine Auswirkung auf den steigenden Drang zur Flucht vor deutschen Realitäten. Die Rückwanderungen aus dem Ausland nehmen deutlich ab - soviel läßt sich den Statistiken entnehmen.

Die Jungen, die eine gute Hochschul-Ausbildung wollen, zieht es schon seit längerem dorthin. Zirka 50000 gehen jedes Jahr deswegen. Mehrheitlich studieren sie jedoch nicht an den oft für deutsche Bildungsreformen beispielgebenden, berühmten US-Unis. Europäische Länder wie Schweden und die Schweiz gewinnen mehr deutsche Nachwuchsakademiker für sich. Während deutsche Universitäten in internationalen Hochschulbewertungen mittelmäßig abschneiden, gehören viele der Hochschulen dieser beiden europäischen Staaten zu den 200 besten der Welt. Initialzündung für die Abwanderung der Bildungselite aus Deutschland ist somit oft bereits die Wahl des Studienplatzes.

Im sogenannten Shanghai-Rating, einer chinesischen internationalen Hochschulbewertung, die Unis nach hervorgebrachten Nobelpreisträgern sowie Teilnehmern am jeweiligen internationalen Top-Wissenschaftsdiskurs eines Faches, sprich Veröffentlichungen in renommierten Fachzeitschriften, untersucht, nimmt die beste deutsche Uni zum Erhebungszeitpunkt 2005 nur Platz 51 ein. Es ist die Universität München. Die nächsten folgen auf den Plätzen 52, 71, 84 und 90 (TU München, Heidelberg, Göttingen und Freiburg). Die Shanghai-Einstufungen stimmen weitgehend mit Resultaten anderer Vergleichsstudien überein. In der Liste der "World's Top 200" der britischen Zeitung "The Times" finden sich beispielsweise fast die selben erfolgreichen internationalen Hochschulen, Deutschland schneidet sogar noch schlechter ab.

Es mangelt im deutschen Hochschulsystem schlicht an Anreizen, die Qualität von Lehre und Forschung zu verbessern. Masse statt Klasse ist hierzulande im Bildungssektor die Folge. Die neuen Studiengebühren ohne angemessene Verbesserungen im Leistungskatalog der Hochschulen treiben zusätzlich Jugendliche ins Ausland - wenn zahlen, dann für Qualität, lautet die Devise. Kluge Köpfe wandern daher ab, gelten als Exportschlager. Betrachtet man die absolute Spitzengruppe der Nobelpreisträger, so fällt auf, daß zwischen 1985 und 2005 in Chemie, Physik und Medizin mehr im Ausland als im Inland forschende Deutsche ausgezeichnet wurden (statistisch 7,6 zu 4,3 Preisverleihungen).

Sicher sind die obersten Segmente der Bildung nicht allein entscheidend für Abwanderung. Noch genießen deutsche Arbeitnehmer gerade wegen ihrer guten Ausbildung im Ausland hohes Ansehen. Doch selbst diejenigen, die den großen Schritt in die Ferne nicht wagen, suchen ihr Glück in der nahen Ferne. In Österreich tummeln sich inzwischen neben deutschen Studenten auch Ungelernte, die sonst nicht zu den besonders mobilen Gesellschaftsschichten zählen. Gerade wer ab einem bestimmten Alter in Deutschland nach Arbeitslosigkeit keine Chance auf einen Wiedereinstieg ins Berufsleben hat, geht - notgedrungen.

Abwanderung, gerade der Qualität, wird zum volkswirtschaftlichen Problem. Die Binnen(ab)-wanderung in Deutschland von Ost nach West zeigt in erschreckender Weise, wie Gemeinwesen, in denen Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit ein gewisses Maß erreicht haben, veröden. Die Politik kann dagegen unmittelbar nichts ausrichten. "Heimatpakete" mit bunten Magneten und Produkten der verlassenen Region locken niemand zurück, wie jüngst in Sachen "Aufbau Ost" versucht. Mittelbar kann die Politik allerdings die Weichen für eine bessere Zukunft stellen, Rahmenbedingungen ändern. Globalisierungseffekte, der härtere Wettbewerb um Löhne und Arbeit, sind also bestenfalls eine Seite der Abwanderung. Die andere ist die Suche nach einem Ausweg aus einem in seinen Strukturen festgefahrenen Land, an dessen relativem Abstieg sich nicht jeder beteiligen will oder kann.

Deutsche Bäckerei in Australien: Früher verließen vor allem untere Schichten auf der Suche nach ihrem Glück Deutschland. Inzwischen wandern eher die Gutausgebildeten ab. Foto: Joker


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