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13.05.06 / Geschichten, die Mut machen / Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft und der Frieling-Verlag haben zu einem Literaturbewerb aufgerufen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 13. Mai 2006

Geschichten, die Mut machen
Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft und der Frieling-Verlag haben zu einem Literaturbewerb aufgerufen
von Silke Osman

Schon am Morgen war die Veränderung zu spüren. Die Bettdecke schien schwerer als sonst, überhaupt: Die Beine fühlten sich an wie nach einer durchtanzten langen Nacht. Dabei war der Abend zuvor sehr ruhig verlaufen. Was war geschehen? Verwirrt verließ ich die wärmenden Federn, ging ein paar Schritte Richtung Bad. Wie ein Storch im Salat, fuhr es mir durch den Sinn. Die Beine fühlten sich taub an, die Haut schmerzte bei jeder leisen Berührung. Am schlimmsten war schließlich das Wasser unter der Dusche.

Was tun? Wegen solch einer Lappalie zum Arzt? Kommt gar nicht in Frage. "Es" wird schon wieder verschwinden - so plötzlich wie "es" gekommen ist. Und tatsächlich: Ein paar Tage später hatten sich die Mißempfindungen in den Beinen verabschiedet. War vielleicht doch bloß 'ne kleine Macke ...

Ein neuer Morgen und - eine neue "Macke". Diesmal brannten die Beine wie Feuer, dabei fühlten sie sich eiskalt an. Auch das ging vorüber. Hitze, Kälte, schmerzhafte Spasmen, Stolpern, Schwindel - die Palette der "Macken" war bunt. An einem anderen Tag wollten die Beine nicht so wie ich, machten sich fast selbständig, knickten nach hinten weg. Nun doch zum Arzt. Der war hilflos, murmelte etwas von Durchblutungsstörungen. Selbst der Facharzt, den ich später aufsuchte - schließlich wurde die Angelegenheit doch ein wenig unheimlich -, wollte sich nicht so recht auf eine Diagnose festlegen.

Es vergingen gute zehn (!) Jahre, bis ich Gewißheit hatte: Multiple Sklerose (MS), eine bisher nicht heilbare Erkrankung des zentralen Nervensystems, sollte mich fortan begleiten. Moderne technische Errungenschaften wie die Magnetresonanztomographie (MRT), mit der man Gewebeveränderungen in Gehirn und Rükkenmark sichtbar machen kann, und die Möglichkeit, die Leitfähigkeit von Nervenbahnen zu untersuchen, halfen bei der Diagnose. Endlich hatte das Kind einen Namen, wenn auch einen, der Angst machte. Das Bild eines Rollstuhls vor dem geistigen Auge, Krücken, nicht mehr lesen können, nicht mehr schreiben, keinen klaren Gedanken fassen - das sind Horrorvorstellungen, nicht nur für Journalisten.

Mittlerweile sind fast drei Jahrzehnte vergangen, und ich habe viele Informationen sammeln können über diese Krankheit mit den tausend Gesichtern. - Mehr als 120000 Menschen leiden in Deutschland an Multipler Sklerose, jährlich kommen etwa 3000 Neuerkrankungen hinzu. Meist verläuft die Krankheit in Schüben und trifft mehr Frauen als Männer. Sie tritt vornehmlich zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf, ist weder ansteckend noch eine Erbkrankheit.

Bei der Multiplen Sklerose wird die Myelinschicht, die als Schutz die Nervenbahnen umhüllt und für eine reibungslose Impulsweitergabe sorgt, durch bislang unbekannte Ursachen wahllos und an unterschiedlichen Stellen angegriffen und zerstört. Es bilden sich Flecken (Plaques) von verhärtetem, vernarbtem (sklerosiertem) Gewebe an diesen verschiedenen Stellen (multipel) in Gehirn und Rückenmark. Die Folgen sind je nach dem Ort des Befalls Taubheitsgefühle, Sehstörungen, Koordinations- und Konzentrationsstörungen, Lähmungen und Sprachstörungen. Multiple Sklerose läßt sich (noch) nicht heilen, aber behandeln. Man setzt auf Interferone, welche die Häufigkeit und Schwere der Schübe reduzieren sollen. Bei akuten Schüben arbeitet man über kurze Zeit mit hochdosiertem Kortison.

Multiple Sklerose ist keine Krankheit der modernen Welt. Die ersten überlieferten Beschreibungen stammen aus dem 14. Jahrhundert. Da erzählt die Islandsaga von St. Thorlakr von der Wikingerfrau Hala, die vorübergehend unter Blindheit und Sprachstörungen litt. Auch der Vetter der englischen Königin Victoria, Augustus Frederick

d'Este (1794-1848), litt offensichtlich unter MS. Auch bei Heinrich Heine vermuten einige Experten mittlerweile, daß er an Multipler Sklerose erkrankt war und nicht an der Syphilis.

Neben dem Wissen um den Charakter der Krankheit und Prognosen über den Verlauf ist es natürlich auch interessant zu erfahren, wie andere Betroffene mit der Diagnose umgehen. Zu einem der ersten Bücher, die ich zu diesem Thema las, gehörte der bei Habbel in Regensburg 1980 erschienene Band "Lauf solange du kannst" von Cordula Lipke. Allein der Titel war stets Ansporn selbst an schweren Tagen. Als ich kürzlich wieder darin blätterte, fiel mir ein Vers von Heinrich Heine auf, der gleich zu Anfang zu lesen ist:

Anfangs wollt ich fast verzagen,

Und ich glaubt, ich trüg es nie;

Und ich hab es doch ertragen -

Aber fragt mich nur nicht, wie.

Liest man in den Berichten oder sieht man Patienten im Wartezimmer der neurologischen Praxis, dann merkt man erst, wie gut es einem vergleichsweise geht. "Geschichten, die Mut machen, sich nicht aufzugeben, sondern sich und anderen zu beweisen, daß das Leben weitergeht und daß es lebens- und liebenswert ist", nennt Dorothea Pitschnau-Michel, die Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft (DMSG), die Ergebnisse eines Schreibwettbewerbs für MS-Kranke und deren Angehörige. Ausgeschrieben hatten diesen Wettbewerb im vergangenen Jahr die DMSG und der Berliner Frieling-Verlag unter dem Motto "Krankheitsbewältigung durch Schreiben".

"Oft erreichen das Lektorat Manuskripte, die ganz persönliche Lebensgeschichten enthalten", schreibt Verleger Johann-Fried-rich Huffmann zum Geleit eines Buches mit den zwölf besten Texten aus dem Wettbewerb ("Multiple Sklerose - Schock und Chance", Frieling-Verlag, Berlin 2006, 112 Seiten, brosch., 7 Euro).

"Gemeinsam ist all jenen Werken, daß sie aus der Perspektive von Betroffenen verfaßt worden sind, und dadurch eine Authentizität aufweisen, die man in der Fachliteratur vergeblich suchen wird. Unabhängig davon, wie sich diese Autoren ihren Erkrankungen nähern, können nahezu alle bezeugen, daß die schriftstellerische Auseinandersetzung ihre Bewältigung unterstützt und eine Linderung des Leidensdruckes bedeutet, der auf den Betroffenen lastet." Vor diesem Hintergrund initiierte der Verlag zusammen mit der DMSG diesen Literaturwettbewerb, an dem 153 Autoren teilnahmen. Huffmann betont, daß er mit diesem Wettbewerb nicht zuletzt auch gesellschaftliche Verantwortung übernehmen wolle und all jenen Sympathie zolle, die tagtäglich mit der Krankheit konfrontiert sind.

Ob nun in der detailgetreu niedergeschriebenen Geschichte der Erkrankung, ob im dichterisch aufgearbeiteten Text - die Angst der Betroffenen wird immer deutlich: Wie geht es weiter? Was erwartet einen am nächsten Tag? "Multiple Sklerose ist hinterhältig und unberechenbar, willkürlich und unvorstellbar schrecklich. Du weißt nie, wann der nächste Schub kommt. Du kannst dich nicht darauf vorbereiten wie auf eine Operation. Du weißt nicht, was dich erwartet, weil es jedes Mal anders ist", schreibt Dominik Blacha, ein junger Mann, der seine Mutter leiden sieht und nicht helfen kann.

"Multiple Sklerose ist mehr als eine Krankheit, viel mehr als nur ein medizinisches Problem. Multiple Sklerose verändert das Leben, jeden Tag und von Grund auf, denn die Konsequenzen im Alltagsleben sind schwerwiegend und mitunter bitter", schreibt Christian Wulff, Ministerpräsident von Niedersachsen und Schirmherr der DMSG. Und er weiß, wovon er spricht: "Ich war 14 Jahre alt, als bei meiner Mutter die Erkrankung vermutet und später diagnostiziert wurde. Ich weiß, welche Schwierigkeiten MS-Erkrankte und deren Angehörige tagtäglich überwinden müssen, und ich weiß auch, was es bedeutet, wenn Menschen anderen Hilfe geben, ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Hiervon ein Stück zurückzugeben, halte ich für eine sehr schöne Aufgabe und Erfahrung", betonte Wulff bei der Übernahme der Schirmherrschaft vor mehr als drei Jahren. "Diese Geschichten ermutigen, die Zukunft in einem positiven Licht zu sehen. Und sie dokumentieren: Es ist mein Leben und nicht das der Krankheit." Es sind nicht zuletzt auch Geschichten von Menschen, die diese Krankheit als Chance gesehen haben, ihr Leben, wenn auch zunächst notgedrungen, anders einzurichten.

Weitere Informationen auch im Internet unter www.dmsg.de.

Moderne Diagnostik: Hier werden die Gehirnströme gemessen. Foto:Bundeswehrkrankenhaus Leipzig

Christian Wulff: Schirmherr der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft Foto: DMSG


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