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13.05.06 / Bilder meiner ostpreußischen Großmutter / Zeugen eines Kapitels deutscher Vergangenheit - Wie durch ein Wunder 100 Jahre überlebt

© Preußische Allgemeine Zeitung / 13. Mai 2006

Bilder meiner ostpreußischen Großmutter
Zeugen eines Kapitels deutscher Vergangenheit - Wie durch ein Wunder 100 Jahre überlebt
von Angelika Fischer

Fotos und Bilddokumente aus dem alten Ostpreußen gibt es nur wenige. Schließlich hatten die Flüchtlinge in den letzten Kriegsmonaten Wichtigeres zu retten und mitzunehmen als Ölgemälde oder Fotoalben. Verglichen mit dem Schicksal vieler ihrer Landsleute ist die Geschichte meiner Großmutter ein Glücksfall: Nicht nur, daß sie als Malerin Impressionen ihrer ostpreußischen Heimat mit Pinsel und Farbe festgehalten hat - als Ehefrau eines Zollbeamten verließ sie bereits weit vor jedem Gedanken an Vertreibung ihre Heimat und wechselte danach regelmäßig ihren Wohnort innerhalb des Deutschen Reiches im Zuge der jeweiligen Versetzungen und Beförderungen ihres Gatten. So blieben trotz zweier Weltkriege ihre Bilder sowie zahlreiche Fotodokumente erhalten. Bis diese auf wundersame Weise den Weg von Ostpreußen über Westdeutschland und Südamerika wieder zurück nach Deutschland und zu mir fanden, verging seit ihrer Entstehung fast ein volles Jahrhundert ...

Gekannt habe ich diese Großmutter kaum, ihren Sohn, der mein Vater war, gar nicht ... Als er sich 1950 von meiner Mutter trennte, war ich kein Jahr alt und er ganz weit weg nach Brasilien entschwunden. Meine Großmutter, die damals in Neckargemünd lebte, traute sich erst 1960, nach dem Tode ihres Mannes, einen Brief an ihre Schwiegertochter in Hamburg zu richten mit dem Wunsch, ihre einzige Enkeltochter kennenzulernen. Und so reiste ich als zehnjähriges Kind voller Aufregung von der Elbe an den Neck-ar, um die mir bis dato unbekannte Großmutter zu besuchen. Für das Kind war es Liebe auf den ersten Blick: Die "neue Oma" war Malerin, das ganze Haus hing voll mit ihren Bildern, und ich, die ich eine künstlerische Ader von ihr geerbt habe, war begeistert. Sie erklärte mir, was auf den Bildern zu sehen war: das alte Ostpreußen mit seinen Kiefernwäldern, weißen Sandstränden und der Ostsee im Hintergrund, die satten grüne Wiesen des Memellandes mit seinen behäbigen, reetgedeckten Bauernhäusern oder Stadtansichten wie die des winterlich verschneiten Elbing. Damals war meine Großmutter bereits 75 Jahre alt. Ihre schönsten Bilder hatte sie indessen als junge Frau gemalt, als sie um die 20 Lenze zählte.

1886 in Lessen im Kreis Graudenz als Frieda Liebig zur Welt gekommen - eine "höhere Tochter" aus gut situiertem Elternhaus, Vater Apotheker, Mutter Pfarrerstochter - machte sie bereits im zarten Alter von 19 Jahren künstlerisch auf sich aufmerksam: allerdings nicht als Malerin, sondern als Sängerin! "In dem ersten Adventskonzert in der Drei-Königenkirche lernten wir eine neue Sängerin in Frl. Frieda Liebig kennen", heißt es in einem sorgfältig aufbewahrten Zeitungsausschnitt vom 5. Dezember 1905, in dem weiter steht: "Ihre Ausbildung ist noch nicht abgeschlossen, indes läßt der Vortrag der jungen Sängerin recht Gutes von der Zukunft erwarten. Die beiden Lieder, die Frl. Liebig sang: ‚Sei stille dem Herrn' und ‚Geistliches Wiegenlied' wurden in gefälliger Form mit schönem Ausdruck geboten." Parallel zum Gesangsunterricht studierte sie Malerei im Atelier Gabel in Elbing, wo zwischen 1905 und 1907 Bilder entstanden wie "Sonnenaufgang über der Ostsee bei Zoppot" - ein Werk, das meiner Ansicht nach einen Vergleich mit französischen Impressionisten nicht zu scheuen braucht.

Im Mai 1908 ehelichte Frieda Liebig den Zollbeamten Max Fischer, der aus Kleve im Rheinland stammte und dem sie von nun an dahin folgte, wohin die Dienstpflicht ihn rief: von 1910 bis 1914 an die deutsch-russische Reichsgrenze nach Paaschken im Kreis Memel, wo einige schöne Landschaftsbilder entstanden, nach dem Ersten Weltkrieg nach Kassel, wo 1921 ihr einziger Sohn geboren wurde, später nach Flensburg und zuletzt 1937 nach Heidelberg, wo man nach Versetzung in den Ruhestand sich ganz in der Nähe in Neckargemünd ein Haus als Alterssitz erbaute. Während der Jahre als Ehefrau und Mutter blieb Frieda zum Malen nicht viel Zeit. Und doch finden sich von den unterschiedlichen Aufenthaltsorten sowie von Reisen, beispielsweise nach Helgoland oder Südtirol, einzelne Bilddokumente - vorwiegend Kleinformate vom Aquarellblock mit weniger künstlerischem als persönlichem Erinnerungswert.

Als meine Großmutter 1966 starb, geschah dies nicht in Neck-argemünd, sondern in Rio de Janeiro, wohin sie ihrem Sohn wenige Monate nach meiner ersten und letzten Begegnung mit ihr gefolgt war. Haus und Inventar hatte sie zuvor veräußert, nur ihre geliebten Bilder, die Fotoalben und die Familiendokumente nahm sie mit. Auch mein Vater muß diese Stücke sorgsam gehütet haben: Als auch er 1988 verstarb und seine Wohnung sich nach brasilianischer Landessitte "von selbst" auflöste, blieb nur das übrig, womit Nachbarn, Haushälterin und deren jeweilige Verwandtschaft absolut nichts anzufangen wußten: die Bilder aus dem alten Ostpreußen.

Und so traten diese nach Bewältigung eines immensen Aufwandes an Formalitäten - was das betrifft, sind die Brasilianer deutscher als die Deutschen - ihre Rückreise über den Atlantik an und hängen nun, hundert Jahre nach ihrer Entstehung, bei mir zu Hause im Wohnzimmer: Zeugen eines Kapitels deutscher Vergangenheit und Erinnerung an meine ostpreußische Großmutter.

Bauerngehöft Grobst in Paaschken, 1912 Fotos (2): privat

Frieda Fischer, 1942 im Alter von 56 Jahren portraitiert von Herbert Grass.


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