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20.05.06 / Gefangen im Gesetzesdschungel / Warum der Bürokratieabbau noch nie funktionierte und doch so wichtig ist

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. Mai 2006

Gefangen im Gesetzesdschungel
Warum der Bürokratieabbau noch nie funktionierte und doch so wichtig ist
von Sverre Gutschmidt

Zwei junge Leute wollen in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Nach langer Suche finden sie eine, die Wohnungsgesellschaft würde sofort einen Mietvertrag aufsetzen, doch es kommt nicht dazu. - Bürokratie hat in Deutschland viele, oft absurde Gesichter. Im Fall der zwei Wohnungssuchenden, die nicht zueinander können, steht der sogenannte Wohnberechtigungsschein (auch Paragraph-Fünf-Schein) dazwischen. Günstige, mit öffentlichen Mitteln geförderte Wohnungen unterliegen Regulierungen - im Fall der zwei Suchenden erteilt das Amt zwei getrennte Berechtigungsscheine, die nicht für eine Wohnung reichen. Die beiden Suchenden sind zwar nicht gerade wohlhabend, aber auch nicht verheiratet. Der beabsichtigte Schutz Einkommensschwacher greift nicht, ein noch bedürftigerer Mitbewerber ist nicht in Sicht, die Wohnung steht leer.

Eine Studie der Weltbank (www.worldbank.org) von 2005 bestätigt das Bild eines überregulierten Deutschland. In Sachen Vorschriften und Gesetze sind wir demnach unter den Industriestaaten führend - dank mehr als 2000 Bundesgesetzen mit fast 50000 Einzelnormen. Was die Verantwortlichen an diesem lähmenden Zustand dazu sagen, klingt jedoch ganz anders.

"Die Bundesregierung entlastet Bürgerinnen und Bürger von einem Übermaß an Vorschriften und an bürokratischen Pflichten und Kosten. Als Sofortmaßnahme wird die neue Bundesregierung durch ein Artikelgesetz (,Small Companies Act') Unternehmen von besonders wachstumshemmender Überregulierung befreien." Im Brustton tatkräftiger Entschlossenheit zeigt die Bundesregierung auf ihren Internetseiten, wie "Bürokratieabbau" geht.

Dieser Einstieg voller Elan offenbart jedoch nur: Bevor etwas Regulierendes verschwindet, kommt eine neue Regel, ein neues denglisch formuliertes Modegesetz. So versteht auch der letzte Bürger Bürokratie: Das Überflüssige mit dem Nutzlosen beseitigen. "Standardkostenmodelle zur systematischen Ermittlung von Bürokratiekosten" werden demnach bald eingesetzt. Im Kanzleramt wird "ein unabhängiges Gremium von Fachleuten (Normenkontrollrat) eingesetzt".

Sie halten das für Satire - weit gefehlt. Verfahren und Posten sollten Ihrer Meinung nach abgeschafft oder vereinfacht und nicht aufgebläht werden? - Keine Angst, tatsächlich versucht die Regierung nichts unerhört Neues. Sie bekämpft Bürokratie mit Bürokratie, das Abschaffenswerte sich somit selbst. Damit steht die staatlich selbsternannte Verschlankungsfachfrau Angela Merkel in einer langen Tradition deutscher Bürokratiereform.

Schon Ex-Innenminister Otto Schily sagte 2005 anläßlich der "Freischaltung der 376. elektronischen Dienstleistung der Bundesverwaltung" stellvertretend für die rot-grüne Vorgänger-Regierung: "Obwohl wir an manchen Stellen viel zu viel Bürokratie haben: Die deutsche Verwaltung genießt international ein hohes Ansehen und ist seit jeher ein Wettbewerbsvorteil für unser Land." Den haben viele Bürger bloß noch nicht erkannt. Die wesentlichen Leistungen der Politik in diesem Sektor werden offenbar ignoriert.

Das mußte 2003 Ute Voigt (SPD), seinerzeit noch Innen-Staatssekretärin und nicht an Bürgerferne gescheiterte Wahlhoffnung ihrer Partei für das Ministerpräsidentenamt in Baden-Württemberg, erleben. "Sie werden feststellen, daß der Bürokratieabbau in vielen Punkten schon sehr weit gediehen ist", verriet sie zur damaligen Messe "Moderner Staat" dem verblüfften Publikum und gab prompt konkrete Beispiele. Man habe die Behörden von 654 auf 533 reduziert. Intern sei "neu strukturiert", "gestrafft" worden. Auch das Gleichstellungsgesetz von 2001 habe zum Bürokratieabbau beigetragen.

Also damals schon: zusätzliche Gesetze zum Gesetzes- und Verwaltungsabbau. Die Federführung des Innenressorts beim "Bürokratieabbau" verweist ebenso auf rot-grüne Kontinuität. Immerhin wurden vermehrt Dienstleistungen des Staates dem Bürger im Internet zugänglich gemacht - ein "Fortschrittsanzeiger" dokumentiert das.

Fortschrittlich ist zum Beispiel der im internationalen Vergleich geringe Anteil von 12,5 Prozent Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst - in den USA, Großbritannien und Skandinavien gebe es mehr Staatsdiener, rechnet der jüngste "Fortschrittsbericht" vor. Was das dem Bürger nützt, verrät er nicht. Ideologische Neuerungen wie das "Genderkompetenzzentrum" dienten nachweislich der Effizienzsteigerung, so das Papier.

Echte Erfolge bleiben die Hochglanzmeldungen von der Bürokratiefront schuldig. 200 Gesetze wurden abgeschafft, 800 neue Bundesgesetze im selben Zeitraum verabschiedet.

Von den wenigen Ersparnissen war vieles "ohnehin zeitlich überholt", so Innenminister Wolfgang Schäuble. Entscheidende, das heißt Arbeitsplätze schaffende Erfolge wurden bislang nicht bemerkt. Die aufwendigen Statistikpflichten für Arbeitgeber beispielsweise hat bisher kein Politiker zurückgefahren.

Auch unter Kanzler Kohl sollte Bürokratie abnehmen - statt dessen kamen der Grüne Punkt, der Solidaritätszuschlag und das Dosenpfand. Das Steuerrecht - damals wie heute ein Bereich, in dem sich Bürokratieabbauer beweisen könnten - wurde unter dem CDU-Langzeitkanzler entgegen jahrelanger Ankündigungen nicht vereinfacht. 1993 umfaßten die elf wichtigsten Steuergesetze 2500 Paragraphen auf rund 300 Druckseiten. Jedes Jahr kamen damals etwa 100 Verwaltungsrichtlinien zu diesem Bereich heraus.

Viel früher, unter Konrad Adenauer gab es Bürokratie freilich noch nicht als Problem. Gesetze mußten Not lindern sowie staatliche Ordnung nach den Kriegsfolgen wiederherstellen helfen. So hatte das Bundesgesetzblatt 1950 insgesamt 825 Seiten, aktuell sind es rund 4000. Auch die einsetzende europäische Einigung war noch nicht als das Bürokratiemonster zu erkennen, das heute unablässig Gesetze ausspuckt, die auf nationaler Ebene umzusetzen sind. Dennoch legte schon jene Bundesregierung mit ihrem Beitrag zur Supranationalität der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Ursprung der späteren EU, den Keim für die überstaatliche Regelungsmacht.

Dieses Prinzip, das zur Förderung der europäischen Einheit die Verlagerung von Entscheidungen auf eine vermeintlich unpolitische Verwaltungsebene vorsah, findet sich heute als eine Haupttriebkraft der Bürokratie. Die Auswirkungen gelten für Europa wie für Deutschland. Wo Politiker hier wie dort nicht entscheiden wollen oder Risiken scheuen, lassen sie Gesetz und Verwaltung sprechen. Das Politik mehr ist als nur Verwaltung, wußten Politiker in der Frühphase der Republik allerdings noch.

Das Problem kann nur behoben werden, wenn sich der Staat von vielen angeeigneten Aufgaben wieder trennt, denn auch das hat über die Jahre erkennbar zur Bürokratisierung beigetragen. Über das Nötige hinausgehende Vorschriften wie die des Antidiskriminierungs- beziehungsweise Gleichbehandlungsgesetzes sind auch die Folge überdehnter Prävention. Sie muß zurückgefahren werden. Beispiele dafür finden sich viele, so im Verbraucherschutz.

Die als negativ empfundene Regelungstendenz entmündigt paradoxerweise am Ende gerade den, den sie zu schützen vorgibt, den Verbraucher und Bürger. Gelingt es nicht sie zurückzutreiben, droht, wie die Philosophin Hannah Arendt im Zusammenhang von Bürokratie und Diktatur schrieb, "die Herrschaft des Niemand" als "vielleicht die unmenschlichste und grausamste Herrschaftsform".


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