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27.05.06 / Mit Polemik gewürzt / Gründer der "Financial Times Deutschland" sieht das Ende der Sozialen Marktwirtschaft voraus

© Preußische Allgemeine Zeitung / 27. Mai 2006

Mit Polemik gewürzt
Gründer der "Financial Times Deutschland" sieht das Ende der Sozialen Marktwirtschaft voraus

Schon der Titel läßt aufhorchen: Wolfgang Münchau kündigt nicht weniger als das "Ende der Sozialen Marktwirtschaft" an. Das ist ungefähr so, als würde man in Indien auf offener Straße eine heilige Kuh schlachten. Aber um Aufsehen geht es dem Autor, der einer der Gründer der "Financial Times Deutschland" (FTD) gewesen ist und nun als Europa-Kolumnist und Associate Editor der "Financial Times Limited" mit Sitz in Brüssel tätig ist. Münchaus Polemik gegen all das, was den bundesrepublikanischen Nachkriegskonsens angeht, ist hervorragend geschrieben. Dabei bleibt die Differenziertheit des Urteils allerdings auf der Strecke. Der Kolumnist ist erkennbar auf Krawall gebürstet, doch gerade dies macht die Lektüre so erfrischend.

Münchau übt eine grundsätzliche Systemkritik. Er hält nichts von der ausufernden Reformdebatte in Deutschland. Die Soziale Marktwirtschaft, so seine Hauptthese, war "ein funktionierendes System für eine mittelständisch geprägte Industriegesellschaft". Doch die Stürme der Globalisierung werden sie hinwegfegen. Der Autor glaubt nicht an die Wirksamkeit von einzelnen Reformen. Er sieht sowohl das Wirtschaftssystem als auch die politische Ordnung der Bundesrepublik in Gefahr. Diese Vorstellung erfüllt ihn aber keineswegs mit Grauen. Münchau sehnt die Krise fast herbei, die Schluß machen werde mit den Gepflogenheiten des "rheinischen Kapitalismus" und der "Deutschland AG". Der ehemalige Chefre-dakteur der "FTD" hat lange Jahre in Großbritannien und den Vereinigten Staaten gelebt. Und das angelsächsische Modell, wie Wirtschaft, Gesellschaft und Politik aufgebaut sein sollten, wünscht er sich auch für Deutschland herbei.

"Was die Soziale Marktwirtschaft in ihrem Wesen ausmacht, ist eine vorkapitalistische Vetternwirtschaft, ein dicht vernetzter Klüngel von Banken, Unternehmen und Politik, und eine Wirtschaftspolitik, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Forschung beruht", schreibt Münchau. Recht hat er, will man ihm zurufen, doch meint er anscheinend nicht die Soziale Marktwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards, sondern das, was die Sozialromantiker, Wohlfahrtsstaatsbefürworter und Besitzstandswahrer in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft aus ihr gemacht haben. Doch ein Streit um Worte bringt wenig. Die Fakten sind hingegen eindeutig: Aus der Systemkonfrontation mit dem Ostblock ist nicht das europäische Sozialstaatsmodell als Sieger hervorgetreten. In vielen Ländern Asiens und Osteuropas herrschen mittlerweile Zustände, die noch liberaler und marktwirtschaftlicher sind als in den Mutterländern des angelsächsischen Kapitalismus.

Wolfgang Münchau ist immer dann besonders stark, wenn er die satte Selbstzufriedenheit der Westeuropäer angreift. Politiker vom Schlage eines Oskar Lafontaine oder Gewerkschaftsfunktionäre tragen gebetsmühlenartig vor, die deutschen Arbeitnehmer müßten vor der Billigkonkurrenz aus dem Ausland geschützt werden. Schön wäre es, wenn das unser einziges Problem wäre: "Unser Problem sind nicht chinesische Billigarbeiter, sondern chinesische Wissenschaftler und indische Ingenieure, die mit uns konkurrieren, egal, ob sie mit uns direkt auf unserem heimischen Arbeitsmarkt konkurrieren oder indirekt durch den Handel."

Die von Münchau präsentierten Zahlen lassen aufhorchen: Der Weltanteil Asiens an wissenschaftlichen Publikationen stieg von 16 Prozent im Jahr 1990 auf 25 Prozent im Jahr 2004. Wenn dieser Trend anhält, wird Asien in zehn bis 15 Jahren mehr wissenschaftliche Veröffentlichungen produzieren als die USA. Indien produziert jedes Jahr 260000 Diplomanden in den Ingenieurswissenschaften. Dieser Anteil wird sich bis zum Ende des Jahrzehnts verdoppeln. Im Jahr 1990 waren 62 Prozent aller Doktoranden in den USA bei den Ingenieurswissenschaften Ausländer, hauptsächlich Asiaten. An der Johns Hopkins University in Maryland bestand ein ganzer Jahrgang von Doktoranden in der Mathematik nur aus Chinesen, so Münchau.

Noch ist Deutschland die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Doch dies kann sich ändern. Der Autor verweist auf eine Projektion der amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, welche sich auf die Entwicklung des Wirtschaftswachstums von Brasilien, Rußland, Indien und China für die nächsten 50 Jahre bezieht. Laut Goldman Sachs werden die vier BRIC-Staaten in weniger als 40 Jahren zusammen ein höheres Volkseinkommen haben als die G 6. China werde Deutschland im Jahr 2007 überholen. Indien ist dann im Jahr 2023 dran, Rußland 2028 und Brasilien im Jahr 2036. Sicherlich ist eine solche Langzeitanalyse mit vielen Fragezeichen behaftet. Doch Münchau treibt eine reale Sorge um: In 50 Jahren könnte Deutschland sowohl ein politischer als auch ein ökonomischer Zwerg sein. Möglicherweise werde auch nicht das angelsächsische System die Antwort auf diese Herausforderung der Globalisierung sein. Aber es werde ein liberales sein.

In den kommenden Jahren werden wir uns dem Qualitätswettbewerb stellen müssen, keinem Kostenwettbewerb. Diese Lektion haben die Deutschen noch nicht begriffen. Und schon sind wir bei der nächsten heiligen Kuh. Der Deutsche liebt sein Auto und hängt an der Industriegesellschaft. Klar, viele deutsche Arbeitsplätze hängen an der Automobilindustrie, doch ist das gut? Denn auch hier stechen uns die Wettbewerber aus. Erst im Jahr 1989 stellte die Firma Toyota auf der Autoshow von Detroit ein Topmodell vor, den Lexus. Im Jahr 2004 hatte der Lexus schon den größten Marktanteil in der Luxusklasse in den USA, gefolgt von BMW und Cadillac. Daimler-Chrysler fiel auf den fünften Platz zurück.

Deutschland lebt mental immer noch in der Industriegesellschaft, obwohl der Anteil der Industrie am volkswirtschaftlichen Gesamteinkommen zwischen 1970 und heute von 34 Prozent auf gerade mal 20 Prozent gesunken ist. Will Deutschland weiterhin oder endlich wieder Erfolge haben, so muß es sich hin zur Dienstleistungsgesellschaft entwickeln. Der große Vorteil: Dies bietet sogar eine Art Schutz vor der Globalisierung. Bestimmte Dienstleistungen können eben nicht über die Landesgrenzen transportiert werden.

Dieses Buch will sich erkennbar von anderen Krisenbüchern un-terscheiden. Es ist kein Buch über Reformen, sondern ein einziger Ruf nach dem Big Bang, der alles verändert und auf den Kopf stellt. Doch in einem nicht unerheblichen Punkt ähnelt auch Münchau den übrigen Propheten der Krise. 190 Seiten übt er Kritik an den verlotterten Zuständen in diesem Lande. Und dann kommen noch mal knapp 30 Seiten mit eigenen Rezepten. Doch Münchaus Kochbuch ist zu exklusiv. Er schreibt über den Globalisierungs- und den Liquiditätsschock, über den Niedriglohnsektor, private Zusatzrenten und Wohneigentum. Der große Wurf sieht anders aus. Ansgar Lange

Wolfgang Münchau: "Das Ende der Sozialen Marktwirtschaft", Carl Hanser Verlag, München-Wien 2006, 250 Seiten, 19,90 Euro, Best.-Nr.: 5532


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