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24.06.06 / Nur freundlich? / Eine unheimliche Begegnung und der Kampf mit der eigenen Angst machen einer Rentnerin zu schaffen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 24. Juni 2006

Nur freundlich?
Eine unheimliche Begegnung und der Kampf mit der eigenen Angst machen einer Rentnerin zu schaffen
von Annemarie in der Au

Es war am hellen Mittag, als sie ihm zum ersten Mal in diesem Haus begegnete und zutiefst erschrak. Sie hätte im nachhinein nicht sagen können, warum sie erschrak. Es konnte nicht daran liegen, daß sie ihn noch nie in diesem Haus bemerkt hatte. Das war nichts Ungewöhnliches, denn dieses zehnstöckige Hochhaus spuckte immer irgendwann auf den Fluren oder in den Aufzügen Gesichter aus, die neu erschienen, und dennoch von keinem Bewohner des Registrierens für wichtig befunden wurden.

Nein, das konnte es nicht sein. Es konnte auch nicht an der Schwarzbärtigkeit liegen, die Kinn und Lippenpartie wohlgeformt ausfüllte und diesem Mann gleichermaßen eine südländische Melancholie wie eine gravitätische Dämonie beigab. Nein, auch dieser Anblick war nicht so ungewöhnlich, daß er hätte erschrecken können.

Wenn sie es recht bedachte, war es die unerwartete Freundlichkeit, die sie zutiefst verunsichert hatte. Er hatte für Augenblicke auf sie gewartet, hatte ihr die Tür zum Haus offengehalten. So etwas war in diesem Haus noch nie vorgekommen. So etwas hatte die Zeit abgeschafft. Als Kind war es ihr zum letztenmal begegnet. Da hatte sie auf Befehl ihrer Eltern selber irgend jemandem die Tür aufhalten müssen, dessen Gesicht hinter einem schweren Paket verschwunden war. Dieser Mann hatte ihr die Tür aufgehalten. Er hatte dabei lächelnd eine makellose Zahnreihe entblößt, wie es nur schurkischen Filmhelden zukam. Lächeln? Vielleicht war es eher ein Grinsen gewesen.

Sie grübelte darüber nach. Es gab keine Freundlichkeit ohne Grund. Heute nicht mehr. Es mußte etwas bedeuten. Etwas, wovor immer gewarnt wurde. Wie, wenn die Freundlichkeit nur die Eröffnung einer Hinterhältigkeit war? Wurde man nicht immer wieder zur Vorsicht gerufen? Zuvorkommende Freundlichkeit gab es in dieser Hochhauswelt nicht. Wo hätte man in diesem Massenbetrieb wohl auch damit hinkommen sollen, jedem x-beliebigen Menschen Freundlichkeit zu zeigen.

Je mehr sie nachgrübelte, um so sicherer war sie, daß ihr Erschrecken berechtigt war. Aber sie war gewarnt. Sie würde diese Freundlichkeitsmaske und ihrer Hintergedanklichkeit schon aus dem Wege gehen.

Nur ein paar Tage später mußte sie erfahren, daß es damit nicht so einfach war. Es war Sonntag. Sie freute sich jeden Sonntag auf ihr Spezialitätenrestaurant. Das war die einzige kleine Vergünstigung, die sie sich jede Woche gönnte. Da sah sie den Menschen schon von der Tür aus in der Fensternische sitzen, breit und heiter. Niemand aus dem ganzen Hochhaus war je in dieses Restaurant gekommen. Warum er. Er lauert mir also auf. Weiß schon, wo ich sonntags esse.

Diese Feststellung landete wie ein Faustschlag auf ihrem Magen. Der Schmerz riß sie von der Tür fort, ließ sie in ihre Wohnung zurückeilen. Sie würde sich eben mit Brot und Margarine begnügen. Es blieb ihr die billige Beikost, daß sie den Maskenträger abgehängt hatte. Der Trost war teuer bezahlt. Der Sonntag war verdorben. Ihr wurde zum ersten Mal in ihrem Leben übel vor Angst.

Der Dunkelbärtige ließ sich nicht abhängen. Er fand sie im Waschmaschinenraum, wo sie alle vier Wochen ihre Buntwäsche durch die Maschine jagte. Er zeigte ihr, daß er sie zu finden wußte. Bewies ihr, daß es für ihn kein Hindernis gab; sagte es ihr mit einem scheinbar nichtssagenden Zahnpastalächeln. Fügte noch die Harmlosigkeit drein: Also dies ist der Waschraum. Als wenn er den und nicht sie gesucht hätte. Dann nickte er ihr zu, als wenn er etwas vom Waschen verstünde. Verlor seine Lächelmaske nicht, obwohl sie stumm blieb und sich in einen Schutzraum zwischen Außenwand und Waschmaschine zurückgezogen hatte. Er ging und sagte nachdrücklich: Auf Wiedersehen.

Es war nur wie ein kleines Zwischenspiel. Aber die Angst schüttelte sie danach so sehr, daß es ihr schwer fiel, die kleinen Wäschestücke aus der Maschine zu nehmen und im angrenzenden Trockenraum aufzuhängen. Sie zitterte auch im Bett noch, fand die halbe Nacht lang keinen Schlaf.

Was, um des Himmels willen, was steckte dahinter? Was wollte der Mann von ihr? Die Unruhe ließ sie nicht mehr los, machte sie fahrig und seltsam kraftlos. Doch sie dachte nicht daran, so leicht aufzugeben. Er sollte sich das nur nicht einbilden. Sie blieb auf der Hut. Und doch, was nützte es. Wenn sie auch fühlte, wie ihr ein Lauern im Nacken saß, er selbst trat tagelang nicht in Erscheinung. Er ließ sich Zeit. Ließ sie zappeln. Er ließ sich nicht programmieren. Er würde kommen, wenn es ihm paßte; wenn er wieder auf ihr Unvorbereitetsein treffen würde. Das war es wohl. Sie war sicher, daß er so rechnete.

Aber auch sie rechnete. Rechnete jeden Augenblick mit seinem plötzlichen Erscheinen. Rechnete sich immer wieder vor, was alle bunten Blätter und einfarbigen Sendungen an Warnungen von sich gaben. Vermied aus diesem Grund den Fahrstuhl, obwohl ihr das Treppensteigen nicht leicht fiel. Rechnete in jeder freien Minute mit seiner herausfordernden Freundlichkeit ab. Alles Aufrechnen brachte sie an den Rand der Zurechnungsfähigkeit. Sie spürte es wohl. Aber dieser Mensch sollte sich verrechnen. Nur darum ging es noch.

Und dann stand er doch wieder unvermittelt vor ihr. Er hatte sie überrumpelt. Profihaft. Es hatte an ihrer Tür geklingelt. Dezent und höflich. Ein Blick durch das Guckloch auf den Hausflur hinaus zeigte ihr nichts. Also kam das Klingeln wohl von der Haustür her. Sie wollte es durch die Sprechanlage abweisen. Es gab für alle Wohnungstüren dieses Flures nur eine Sprechanlage. Sie öffnete die Tür, um an den Apparat zu gehen. Da trat er vor sie. Er hatte so an der Seite gestanden, daß der Türspion ihn nicht erfassen konnte. Nun stand er da, hielt ein winziges Wäschestück in die Höhe, fragte, ob es ihr gehöre, er ginge damit von Tür zu Tür, er hätte es im Wäscheraum gefunden. Und das Lächeln machte sich wie immer aufreizend breit in diesem Gesicht. Es signalisierte Fröhlichkeit, wo für sie keine war.

Sie wußte nicht, wie sie sich hinter die Tür hatte retten können. Sie wußte auch nicht, was ihr noch die Kraft gegeben, vor dieser Tür eine Barrikade aus Tisch und Sesseln zu bauen. Als sie wieder zu sich kam, war es Nacht, und sie lag neben der Barrikade.

Ich bleibe liegen, dachte sie. Ich bleibe für immer hier liegen. Es hat keinen Sinn mehr, überhaupt noch aufzustehen. Warum bin ich noch da. Aber der Morgen trieb sie wieder hoch. Das Pflichtgefühl für ihren Beruf rang noch einmal die Angst nieder.

Sie torkelte in den Tag hinein. Sie schwankte mit schweren Füßen die Treppen hinunter. Ihre Hände tasteten zitternd die Haustür ab, als wüßten sie nicht, sie zu öffnen. Ihre Augen verzerrten die Straße bis zur Unbegehbarkeit. Sie stolperte ihr entgegen. Dachte: Ich muß, ich muß. Dachte: Im Büro ist Rettung. Dachte: Irgendwann war das alles einmal anders. Dachte: Was hat die Freundlichkeit so unfreundlich gemacht. Sie wollte noch weiter denken, aber die Gedanken wurden ihr entrissen. Irgendwas hatte sie der Straße in die Arme gestoßen. Etwas, das grasgrün und groß war. Die Straße preßte ihren Kopf an ihr steinernes, kaltes Herz. Es machte ihr nichts aus. Dann bemerkte sie, daß der Bärtige sich über sie beugte. Sein freundliches Lächeln war erloschen, hatte einem grauen Entsetzen auf seinem Gesicht Platz gemacht. Sie sah es ganz deutlich. Sah es ohne jede Verzerrung. Sie dachte mit Erstaunen: Hinter dieser Freundlichkeitsmaske ist ja doch ein Mensch. Sie nahm dieses Erstaunen mit einer für sie neuen Leichtigkeit, die sie sonderbar glücklich machte, auf ihre Reise mit. Vielleicht, ja vielleicht konnte sie doch noch einmal in diese Freundlichkeit umkehren, die echt gewesen war.

Die Feststellung war wie ein Faustschlag in ihren Magen

Sie wußte nicht, wie sie sich hatte retten können

Dann beugte der Bärtige sich über sie


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