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01.07.06 / Jeder zweite geht leer aus / Trotz aller Mühen an einer Musterschule in Hamburg-Bergedorf: Es fehlen Lehrstellen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 01. Juli 2006

Jeder zweite geht leer aus
Trotz aller Mühen an einer Musterschule in Hamburg-Bergedorf: Es fehlen Lehrstellen
von Rebecca Bellano

Ihr seid heute alle wunderschön!" Stolz betrachtet Klassenlehrerin Angelika Maijer ihre 22 Hauptschüler, die heute zu ihrer Abschlußfeier wirklich außerordentlich feierlich gekleidet sind. Die Mädchen tragen dunkelrote, schwarze oder goldene Abendkleider, die Jungs mindestens ein Sakko zu ihrer Jeans, wenn nicht sogar Nadelstreifen.

Während die engagierte Lehrerin ihre aufgeregten Schützlinge zu beruhigen versucht, sitzen in der Aula Freunde und Familien der Schulabgänger der Schule Richard-Linde-Weg in Hamburg-Bergedorf. "Wir wissen, wir wollen, wir machen", lautet der Text eines Liedes, das im Hintergrund läuft. Dann wechselt die Musik und es wird ganz still in dem überfüllten Saal. Zu tragender Musik marschieren sie ein, die fünf Abschlußklassen. Zwei Hauptschulklassen und drei Realschulklassen.

"Packt an und sucht den Erfolg", so die Aussage des Schulleiters Manfred Klein in seiner Rede. Schnell wird deutlich: An dieser Hamburger Vorzeigeschule heißt das Prinzip Leistung. Nach modernen Tanzdarbietungen und Sketchen werden die Schüler namentlich auf die Bühne gerufen, um sich ihr Zeugnis abzuholen. Frau Maijer überreicht ihren Schülern, die sie nun seit der 7. Klasse begleitet hat, zum letzten Mal ein Zeugnis. Diese Klasse gilt als Musterklasse, da zwölf der 22 Hauptschüler einen Ausbildungsplatz haben. Daß über 50 Prozent der Abgänger an einer normalen Schule eine Lehrstelle haben, kommt äußerst selten vor, ist aber an dieser seit 2001 Standard. Doch dieser Erfolg kommt nicht von allein. "anSchub zum Erfolg" heißt das für die Lehrer betreuungsintensive Projekt. Seit nun fünf Jahren wird der Unterricht der 8. und 9. Klassen so umgestellt, daß die Schüler den Stoff auch in drei Tagen in der Woche erlernen können. An den anderen beiden Tagen machen sie ein Betriebspraktikum, das sie sich selbst suchen müssen. Ein halbes Schuljahr kann der Schüler so in einen Beruf reinschnuppern und seinen möglichen späteren Lehrbetrieb von seinen Fähigkeiten überzeugen. Insgesamt lernt der Schüler von der 8. bis Ende der 9. Klasse so vier Betriebe und häufig, wie das Beispiel Richard-Linde-Weg zeigt, auch seinen späteren Lehrbetrieb kennen. Während andere Schulen ihren Schülern nur ein zwei- oder dreiwöchiges Betriebspraktikum ermöglichen, lernen die Schüler im sozial eher schwachen Hamburg-Bergedorf (gut 20 Prozent Ausländer, ein Viertel Hartz-IV-Empfänger) schnell, wie das Arbeitsleben aussieht. Auch seien sie an ihren anderen drei Schultagen motivierter, weil sie nun verstünden, wofür sie lernten. Dies käme auch dem Lehrer-Schüler-Verhältnis zugute, so Peter Herrmann, der Leiter des Projektes.

Wie gut die Vermittlungsquote der Hauptschüler ist, zeigt auch ein Blick auf die ebenfalls in der Aula gefeierten, nicht an "anSchub zum Erfolg" beteiligten Realschüler. Hier haben von 29 Abgängern nur sieben einen Ausbildungsplatz. Die anderen 22 gehen weiter auf die verschiedensten Schulen, wobei dies bei gut zehn von ihnen nur eine Notlösung sei, da sie nicht das Potential für einen höheren Schulabschluß hätten, so die nüchterne Bilanz ihrer Klassenlehrerin.

Schule als Auffangbecken für Übriggebliebene? Knut Böhrnsen, Pressesprecher der Arbeitsagentur in Hamburg, verwehrt sich gegen diese Behauptung. Damit jeder das bekäme, was er wolle, müßte das Ausbildungsplatzangebot größer sein als die Nachfrage, was es nun mal absolut nicht sei. Viele Jugendliche seien nun mal nicht ausbildungsreif und würden alleine deshalb noch ein, zwei Jahre weiter zur Schule geschickt. Trotz vieler jugendgerechter Angebote im Internet (www.arbeitsagentur.de oder www.ich-will-eine-ausbildung.de) würden sich viele nicht umfassend und rechtzeitig informieren, so daß ihnen aufgrund eigener Versäumnisse nichts anderes bliebe, als beispielsweise ein Berufsvorbereitungsjahr zu machen. Schule also doch als Notlösung? Und wie viele der Abgänger dieser "Notlösung" erhalten danach einen Ausbildungsplatz in Unternehmen.

Zahlen von Seiten der Arbeitsagentur gibt es nicht, dabei wäre es durchaus sinnvoll zu fragen, ob es nicht effizienter wäre, wenn der Staat gleich nach Schulabgang betriebliche Ausbildung fördern würde, anstatt Zehntausende von Schulplätzen als "Notlösung" zu finanzieren? Doch diese Fragen scheint sich von Staatsseite beziehungsweise Länderseite keiner zu stellen, denn übriggebliebene Schulabgänger werden weiter irgendwo auf Schulen in Warteschleifen geparkt. Das kostet nicht nur Geld, sondern reduziert auch die tatsächliche Erwerbszeit der jungen Leute, was wiederum Folgen für die Sozialkassen hat.

Zu den finanziellen Aspekten dieser Fehlentwicklung kommen auch noch die individuellen. Wer länger braucht, ins Berufsleben zu kommen, der gründet später eine Familie, der ist frustriert und somit weniger leistungsfähig, der fällt als Konsument im Wirtschaftsleben aus.

Freie Berufswahl? Fehlanzeige! Die angeblich so spaßorientierte Jugend weiß, daß sie nehmen muß, was sie bekommen kann. Da beschreitet so mancher panisch Wege, die er nie zuvor für möglich gehalten hätte und die ihn auch nicht glücklich machen. Dies führt häufig zu einer zweiten und dritten Folgeausbildung, die erneut Zeit und Geld kostet.

Inzwischen hat das Projekt vom Richard-Linde-Weg Schule gemacht, doch nicht jeder Lehrer ist bereit, die damit verbundene 50prozentige Arbeitszeitverlängerung hinzunehmen. Außerdem müsse man seine Schüler lieben, dürfe sie nicht als Abfall der Gesellschaft sehen, so Angelika Maijer. Und selbst, wenn das alles der Fall ist, gibt es auch am Richard-Linde-Weg keine Erfolgsgarantie, schließlich haben über 40 Prozent keine Lehrstelle.

Berufspraktika halfen bei Jobsuche

Lehrer müssen ihre Schüler lieben

Bestanden: Schulabgänger vom Richard-Linde-Weg feiern mit Freunden und Familie. Foto: Bel

 

Schulabgänger mit Perspektive

Nadine, 16 Jahre alt, hat ihren Realschulabschluß bestanden und beginnt zum 1. August eine Ausbildung zur Steuerfachangestellten.

Sven, 15 Jahre alt, hat seinen Hauptschulabschluß bestanden und läßt sich zum Konditor ausbilden.

Jennifer, 15 Jahre alt, Beste ihrer Hauptschulabschlußklasse. Da ein Bürojob für Jennifer nicht in Frage kam, bewarb sich die Hamburgerin bei mehreren Unternehmen im Einzelhandel, wo schon ihre beiden Großmütter tätig sind. Am 1. August beginnt sie nun eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau bei "C & A", wo sie auch schon ein Schulpraktikum gemacht hat.

André, 15 Jahre alt, hat erfolgreich die 9. Klasse abgeschlossen. Nach gut 15 geschriebenen Bewerbungen beginnt er nun in dem Betrieb, in dem er auch ein Praktikum gemacht hat, seine Lehre zum Industriemechaniker. Auch Andre´s Vater arbeitet in diesem Beruf.

Simon, 16 Jahre, hat ebenfalls seinen Hauptschulabschluß in der Tasche. Im Rahmen eines Berufspraktikums als Dachdecker wurde ihm ein Ausbildungsplatz in Aussicht gestellt, den er aus Vernunftgründen anzunehmen beabsichtigte. Die Firma ging Anfang des Jahres in Insolvenz, so daß der Schulabgänger sich kurzfristig etwas Neues suchen mußte. Jetzt besucht er ab dem nächsten Schuljahr eine Berufsfachschule für Medien und Design, um sich hier zum Tontechniker, seinem Wunschberuf, ausbilden zu lassen.


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