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19.08.06 / Einmalig und unverwechselbar / Der junge Dichter Durs Grünbein ist ein Lichtblick im deutschen Sprachraum

© Preußische Allgemeine Zeitung / 19. August 2006

Einmalig und unverwechselbar
Der junge Dichter Durs Grünbein ist ein Lichtblick im deutschen Sprachraum
von Klaus Rainer Röhl

Alle 50 Jahre spuckt das Zeitalter einen oder zwei wirkliche Dichter aus, Genies, deutlich zu unterscheiden von den vielleicht 1000 anderen mehr oder weniger guten Handwerkern der schreibenden Zunft. Das Genie ist mehr. So wie Mozart mehr war als Rossini oder Gluck, Goethe mehr war als Lessing. Das Genie ist deutlich anders als die Künstler vor ihm. Ich möchte die Behauptung wagen sogar ein wenig besser als alle vor ihm. Das würde heißen, daß es auch in der Kunst einen Fortschritt gibt. Die meisten leugnen das. Sie schwärmen von der guten alten Zeit. Von dem Niveau, das nie mehr erreicht wird. Die Kulturpessimisten in Deutschland malen schon lange den Teufel an die Wand, verkünden das Ende der Dichtung und behaupten, nun ist Feierabend im Abendland, nach ihnen käme nichts mehr. Aber es kam noch immer etwas Neues und Vollendetes. Oder genial Unvollendetes. Nach dem unsterblichen „Über allen Wipfeln ist Ruh“ kam nach nur 20 Jahren schon Hölderlin. 1956 starben Bertolt Brecht und Gottfried Benn, was sollte danach noch kommen? Nichts Nennenswertes, hatte Brecht behauptet. 

Es kamen aber Peter Rühmkorf und Günter Grass, sie waren unverwechselbar neu. Unverwechselbar, eigentlich auch kaum übersetzbar deutsch. Und von niemandem zu übertreffen oder zu plagiieren als von ihnen selbst. Beide sind heute über 75, und wir sind glücklich, sie unter uns zu haben, aber das Schicksal ist uns nun, nach einem halben Jahrhundert, neue Genies schuldig, junge Leute, die heute vielleicht 30 oder 40 Jahre alt sind, auch sie einmalig und unverwechselbar. Autoren, die wir gerne lesen und die unsere Gedanken und Gefühle in unserer Sprache ausdrücken. Sie werden nicht auf Lyrik-Seminaren geschult, nicht beim Ingeborg-Bachmann- Wettbewerb entdeckt, sie sind da, wenn ihre Zeit gekommen ist. Ein solcher Lichtblick im deutschen Sprachraum ist der heute 44jährige und mit Preisen bereits geehrte Durs Grünbein. Und es ist vielleicht kein Zufall, daß er seine Jugend im „Tal der Ahnungslosen“ verbrachte, in Dresden, wo man den Westen kaum aus dem Fernsehen kannte. 

Kaum war die Mauer gefallen, da veröffentlichte der junge Student, der das Glück hatte, in seiner Heimatstadt Dresden ein Gymnasium besuchen zu können, an dem Latein und Griechisch gelehrt wurden, seine ersten Gedichte in der „taz“, der linken Zeitung für Anfänger, in der manche ein Leben lang bleiben. Ein Jahr später erschienen seine Gedichte in der „FAZ“, und Suhrkamp druckte das erste Buch. Heute sind es 20 Bände, Prosa, Lyrik, Essays, Tagebuchnotizen, Epitaphe, Kinderverse, Aufsätze, Übersetzungen aus dem Altgriechischen wie Aischylos’ „Die Perser“, in einem makellos treffsicherem Deutsch. Meisterhaft, verblüffend reif alle Versuche. Eine bereits vor drei Jahren erschienene kleine Kostbarkeit ist ein Versepos im Geist von Goethes „Hermann und Dorothea“. Es trägt den Titel „Vom Schnee oder Descartes in Deutschland“ (Suhrkamp Verlag, 144 Seiten, 19,90 Euro). Ein tollkühner Entwurf: Grünbein läßt den berühmten französischen Philosophen René Descartes, nur von einem lebensklugen Diener begleitet, zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges durch Deutschland reisen. Wegen wochenlanger Schneeverwehungen in einem kleinen Gasthof eingeschlossen und von aller Welt abgeschnitten, entwickelt er, gewissermaßen plauderdings, die Grundidee zu seinem „Cogito, ergo sum“ (Ich denke, also bin ich). Der Schlußteil des streng gegliederten Epos in 42 Gesängen zu je sieben Strophen à zehn Zeilen zeigt den alt und krank gewordenen Philosophen wieder im Winter, nunmehr im Angesicht des Todes. 

Das heitere Gedicht endet tiefernst. Darauf mußte erst einmal einer kommen - und es können. Abgesehen von der Freude, die einen packt, daß da einer so schwerelos in schnörkellosem Deutsch eine richtig spannende Geschichte erzählen kann, bewundert man die übermütige Formfreude, die jeden der „Cantos“ noch mit einem einprägsamen Reimpaar abschließt, das oft eine zitierbare Sentenz enthält: „Wie lautet Regel Nummer sieben / Von dir wird bleiben nur, was du einst aufgeschrieben.“


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