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02.09.06 / Loses Mundwerk / "Heimat können wir abhaken", so Walter Kempowski

© Preußische Allgemeine Zeitung / 02. September 2006

Loses Mundwerk
"Heimat können wir abhaken", so Walter Kempowski

„Hamit – Tagebuch 1990“ heißt das aktuelle Buch des eigenwilligen Autors Walter Kempowski. „Hamit“? Nein, der Titel weist nicht auf einen Roman aus dem Orient hin, wie man vielleicht vermuten mag, sondern der Begriff ist deutsch. „Hamit“ sagen die alten Erzgebirgler, wenn sie von ihrer Heimat reden. Also erzählt uns der Autor von seiner vor Jahrzehnten verlassenen Heimat anhand seines Tagebuches von 1990? Ja – und nein!

Kurz nach dem Mauerfall fuhr der unermüdliche Archivar von fremden Lebensaufzeichnungen (unter der Bezeichnung „Echolot“ fragmentarisch veröffentlicht) auf den Spuren seiner eigenen Kindheit, in seine Heimat nach Rostock. Begleitet von seinem Bruder durchwanderte er die inzwischen sehr verfallene Stadt. Die nun veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen geben seine Eindrücke von damals wieder. Doch es sind keineswegs nur nüchterne Erlebnisaufzeichnungen. Kempowski, berühmt für seinen collageartigen Schreibstil, baut die verschiedensten Elemente in seine Tagesbeschreibungen ein. Kurze politische Nachrichtenmeldungen, sein Streß mit der Presse, neue Post für sein Archiv, Gesprächsthemen mit seiner Frau, Zitate berühmter Persönlichkeiten; was anfangs ein wenig sprunghaft wirken mag, vermittelt erst ein Gesamtbild von Kempowskis Umwelt, seiner „Hamit“. „Flauberts Briefe. Als die Preußen 1871 abgezogen sind, möchte er sein Haus am liebsten abbrennen, so eklig ist es ihm. Ein Toiletten-Necessaire haben sie ihm ,stibitzt‘ und einen Karton Pfeifen. ,Aber im ganzen haben sie kein Unheil angerichtet‘, schreibt er. – Gott sei Dank. Man würde sich heute noch schuldig fühlen.“

Noch zu DDR-Zeiten wird der umstrittene westdeutsche Schriftsteller jenseits seines alten Wirkungsfeldes herumgereicht. Kempowski, der acht Jahre in Bautzen einsaß, muß allerdings erleben, wie weder West noch Ost an einer Aufklärung der Untaten des DDR-Regimes interessiert sind. „Herr Lafontaine hat heute das Christentum mit dem Sozialismus verglichen. Man schaffe das Christentum ja auch nicht ab, trotz Kreuzzügen und Hexenverbrennung, warum als nicht einen neuen Anfang mit dem Sozialismus machen?“ Derartige Politikeräußerungen kann Kempowski gar nicht unkommentiert lassen. Auch Bemerkungen des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder und der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth lassen den 1929 geborenen Rostocker erschauern. Vor allem die Aussage Süßmuths, daß sie von allen geschichtlichen Gestalten am meisten Hitler und Stalin verachte, läßt der Intellektuelle nicht unkommentiert stehen. „Was haben die davon, wenn sie sie verachtet? Warum nennt sie nicht Krenz und Mielke? Die existieren doch noch.“ Schlußendlich bedauert Kempowski, daß die westlichen Sympathisanten des DDR-Regimes keine Parteiabzeichen getragen haben.

Schwungvoll läßt der in Norddeutschland eine neue Bleibe Gefundene das Wendejahr 1990 wieder auferstehen. Dabei erinnert er an längst vergessen, häufig skurrile Zwischenfälle und öffnet dem Leser die Augen für Dinge, für die er damals, als er mitten im Geschehen stand, blind war.

„Hamit“ wird nie anstrengend zu lesen, da der Autor immer wieder kleine Anekdoten aus seinem Beruf schildert und dabei durch sein sympathisches, loses Mundwerk begeistert. „Die Firma Faber-Castell bedankt sich, daß ich ihre Bleistifte im ,Zeit‘-Magazin lobend erwähnt habe … Sie hätten mir ruhig eine Schachtel Bleistifte schenken können. Für Geschenke bin ich immer zu haben.“

Das Buch endet Silvester 1990. „Heimat, theure Heimat, dir nur allein gilt all mein Sehnen, all mein Sein …“, zitiert Kempowski. „Heimat können wir abhaken. Geblieben ist das Heimweh“, lautet sein ernüchterndes Fazit nach seinen Erlebnissen der vorausgegangenen 365 Tage. (Rebecca Bellano)

Walter Kempowski: „Hamit – Tagebuch 1990“, Knaus, München 2006, geb., 430 Seiten, 24,95 Euro, Best.-Nr. 5558


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