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21.10.06 / Weg durch die Hölle / Juden erinnern sich an die NS-Zeit, gute Deutsche und tiefe Abgründe

© Preußische Allgemeine Zeitung / 21. Oktober 2006

Weg durch die Hölle
Juden erinnern sich an die NS-Zeit, gute Deutsche und tiefe Abgründe

"Die letzten Überlebenden des Holocaust und der Vertreibung des europäischen Judentums werden bald verstummt sein", beginnt Martin Doerry, Interviewer und stellvertretender Chefredakteur des "Spiegel", seine Einleitung zu ",Nirgendwo und überall zu Haus' - Gespräche mit Überlebenden des Holocaust". Diese treffende Bemerkung verdient eine Ergänzung. Weit über 100 deutsche Juden haben ihre Erfahrungen mit dem Dritten Reich in Büchern, Biographien, Interviews, Aufsätzen aufgezeichnet und uns so auf Dauer zugänglich gemacht. Dazu zählt eine ganze Reihe derer, die nun bei Doerry erneut zu Worte kommen, so Inge Deutschkron, Alfred Grosser, Ruth Klüger.

Je größer die zeitliche Distanz, um so schwächer ist leider die Kraft der Erinnerung. Dessen ist sich auch Doerry bewußt, ohne jedoch dem Leser zu sagen, wo sich solche Irrtümer eingeschlichen haben und der Legendenbildung Vorschub leisten. So war Agnes Sassoon 1998 nach Dachau eingeladen - 50 Jahre Reichspogromnacht -, lehnte jedoch eine Übernachtung vor Ort ab: "Denn das Lager war damals viel, viel größer als heute. Ich glaube sogar, daß die Stadt inzwischen teilweise auf dem ehemaligen Lagergelände gebaut worden ist. Und überall liegen doch noch die Gebeine der getöteten Häftlinge in der Erde." Jede der Annahmen ist unrichtig bis sogar hin zu den Leichen, die damals im lagereigenen Krematorium verbrannt und so restlos beseitigt wurden.

"Stolz tragen die Überlebenden öffentliche Auszeichnungen und Preise, selbst deutsche Orden und Ehrenzeichen als Zeichen der Rehabilitation - für ein Verbrechen, das die Deutschen an ihnen begangen haben", heißt es einleitend. Doch waren es wirklich die Deutschen? Der Verfasser des Zitats müßte es besser wissen. Denn sein Urgroßvater, Joseph Schlüchterer, schrieb 1938, also mitten in der Verfolgung: "Seit fünf Jahren sind die Juden in Deutschland einem erbarmungslosen Prozeß der Ausstoßung aus dem Volkskörper überliefert ... In Verwirklichung dieser als ,Weltanschauung' aufgemachten These ist eine Orgie von Rassenhaß gemacht und eine totale systematische Disqualifizierung des jüdischen Menschen ins Werk gesetzt worden ... Das tragische Schicksal der Betroffenen zu schildern, gehört nicht hierher ... Ihnen gegenüber steht das ,arische' Volk. Es unterzieht sich dieser befohlenen Judenverfolgung zum Teil bereitwillig ... Aber zu einem sehr großen Teil lehnt das Volk im Wissen um die Unwahrheit und Ungerechtigkeit der Schlagworte die Verfolgung ab, ohne aber den Betroffenen helfen zu können." (Doerry selbst hat in einem anderen Buch diese Feststellung veröffentlicht.)

Genau zu dieser Einsicht kommt auch, wer sich an Hand aller erhaltenen Aussagen jüdischer Zeitzeugen der NS-Ära ein Urteil bildet. Ihn stört deshalb die sinngemäß wiederholte Feststellung in der Einleitung des Buches: "Überhaupt begegnen viele Emigranten und ehemalige KZ-Häftlinge dem Volk ihrer Peiniger mit großer Nachsicht ..." Ist es Nachsicht oder Einsicht, die Peter Gay schreiben läßt: "Mein Vater hat immer gesagt: ,Man soll nicht ein ganzes Volk verdammen.' Zugegeben, ich habe etwas länger gebraucht, um das auch so zu sehen?"

Die einzelnen Beiträge liefern ein buntes, realistisches Bild. Geschildert wird die Assimilation, das deutsch-nationale Denken, die Aversion gegen die Ost-Juden - vor 1933, sowie später der Sadismus jüdischer wie nichtjüdischer Kapos in den Lagern, die weitgehend von den Insassen verwaltet wurden: "Es gibt in Deutschland so eine Art Wiedergutmachung an den Juden, indem man versucht, sie als Edelmenschen darzustellen. Das waren die Juden im Ghetto aber genauso wenig wie die Menschen sonst irgendwo auf der Welt", bekennt Edgar Hilsenrath und steht damit nicht allein. "Um überleben zu können, mußte man durch die Hölle gehen - und in der Hölle wird man schmutzig", ergänzt Imre Kertész.

Anita Lasker-Wallfisch wirft die Frage auf, ob das Fernsehen in Deutschland mit der ständigen Holocaust-Berieselung gut beraten ist. "Das kann für die jungen Leute schon fast zu viel sein." Wichtiger als die Erinnerung ist die rechte Lehre daraus für die Gegenwart. Sie heißt: Es gibt kein Tätervolk! Konrad Löw

Martin Doerry ",Nirgendwo und überall zu Haus' - Gespräche mit Überlebenden des Holocaust", DVA, München 2006, 264 Seiten, 39.90 Euro, Best.-Nr. 5850


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