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25.11.06 / "Man paßte sich dem Chaos an" / Stefan Zweig sieht "Die Welt von gestern" - Anmerkungen zum 125. Geburtstag des Schriftstellers

© Preußische Allgemeine Zeitung / 25. November 2006

"Man paßte sich dem Chaos an"
Stefan Zweig sieht "Die Welt von gestern" - Anmerkungen zum 125. Geburtstag des Schriftstellers
von Rosemarie Fiedler-Winter

Es hat mir nichts geholfen, daß ich fast ein halbes Jahrhundert mein Herz erzogen, weltbürgerlich als das eines citoyen du monde zu schlagen. Nein, am Tage, da ich meinen Paß verlor, entdeckte ich mit 58 Jahren, daß man mit seiner Heimat mehr verliert als einen Fleck umgrenzter Erde." Das vermerkt Stefan Zweig in seinem zum Dokument gewordenen Lebensrückblick, den er in Brasilien zu Papier gebracht hat und in dessen Einleitung die Worte stehen: "Ich schreibe meine Erinnerungen mitten im Kriege, ich schreibe sie in der Fremde und ohne den mindesten Gedächtnisbehelf. In meinem Hotelzimmer sind mir keinerlei Aufzeichnungen zur Hand. Von all meiner Vergangenheit habe ich also nichts mit mir als das, was ich hinter der Stirn trage." Damit beginnt Stefan Zweig seine berühmte Autobiographie "Die Welt von gestern - Erinnerungen eines Europäers", 1944 erstmals bei Bermann-Fischer, Stockholm, erschienen und noch heute ein Spiegelbild der Befindlichkeit, das vor allem für die Deutschen weit über die Lebenszeit des Autors hinaus Gültigkeit besitzt.

Zweig selbst schied zwei Jahre nachdem seine Aufzeichnungen enden, im Februar 1942, mit seiner zweiten Frau in den Bergen von Petropolis nahe Rio de Janeiro freiwillig aus dem Leben. Mit seinen Erinnerungen formuliert der deutschsprachige, jüdische Schriftsteller österreichischer Herkunft vor dem Hintergrund des eigenen Erlebens Sätze, welche die Misere der Deutschen eindringlicher zum Ausdruck bringen als viele andere bedeutende Federn dieses Jahrhunderts. Seine Schilderungen lassen ein vergangenes Zeitalter zu lebensnaher Gegenwart werden.

Wir gehen mit ihm nicht nur durch die Straßen Wiens im 19. Jahrhundert und erleben die ersten Gedichte, Zweifel und Erfolge des jugendlichen Schriftstellers. Wir folgen ihm vor allem in die Zeit des Ersten Weltkriegs, der 20er Jahre und der Hitler-Diktatur.

Vergebens hatte Zweig versucht, angeregt durch seinen Freund Romain Rolland, die ihm persönlich verbundenen großen deutschen Schriftsteller jener Zeit zu einer Konferenz in der Schweiz und zu einem gemeinsamen Appell an das moralische Gewissen gegen den aufflammenden Haß aufzurufen. Rainer Maria Rilke und Walther Rathenau, der Gerhart Hauptmann ansprechen sollte, lehnten ab. Thomas Mann, Richard Dehmel, Hugo von Hofmannsthal betrachtete er als dem "anderen Lager angehörend". Seine Bemühungen scheiterten. Die Weltgeschichte nahm ihren Lauf.

Nach dem Ende des Krieges und seinem unheilträchtigen Friedensvertrag von Versailles kam die ebenso berüchtigte wie heute nahezu vergessene Inflation. Zweig schreibt: "Nie haben wir in Österreich die Kunst mehr geliebt als in jenen Jahren des Chaos. Man paßte sich dem Chaos an damals, wo in Österreich ein Ei so viel kostete wie früher ein Luxusautomobil und in Deutschland später mit vier Milliarden Mark so viel wie etwa der Grundwert aller Häuser Großberlins bezahlt wurde. Nie habe ich bei einem Volk wie in mir selbst den Willen zum Leben so stark empfunden wie damals als es um das Letzte ging: um die Existenz, um das Überdauern."

Aber das neue, aufziehende Unwetter zeigte sich bereits am Horizont: "Als Hitler an jenem Januartag 1933 Kanzler geworden war, betrachtete ihn die große Menge und sogar diejenigen, die ihn auf diesen Posten geschoben, nur als provisorischen Platzhalter und die nationalsozialistische Herrschaft als Episode ... Auch ich muß bekennen, daß wir alle 1933 und noch 1934 in Deutschland und Österreich jedes Mal nicht ein Hundertstel, nicht ein Tausendstel dessen für möglich gehalten haben, was dann immer wenige Wochen später hereinbrechen sollte." Immerhin wurden Stefan Zweigs Bücher in den ersten Jahren der NS-Herrschaft noch verkauft. Richard Strauss gelang es, dem Diktator persönlich die Genehmigung abzuringen, daß seine "Schweigsame Frau" in der heutigen Semper-Oper in Dresden, die fast alle seine Werke zur Uraufführung brachte, mit dem Libretto des Juden Stefan Zweig über die Bühne ging. Zweig ließ sich davon nicht blenden. Er gehörte "dann später" schon zu jenen, die in der Ferne deutlicher sahen als in der Nähe. Er emigrierte nach London. Damals begegnete er auch Siegmund Freud wieder. Ihm und Maxim Gorki widmet der große Ästhet die innigsten biographischen Erinnerungen. 

Gorki war für ihn nicht das Aushängeschild sowjetischer Literaturpflege, sondern der Mensch, in dem er die große dunkle russische Seele am unmittelbarsten empfunden hat, während er in Freud "einen Heros des Geistes" verehrte. Der Autor großer Biographien beobachtete scharf, auch sich selbst: "Ich bin heute, wie unser Grillparzer einmal sagte, einer, der lebend hinter seiner eigenen Leiche geht." Er hält fest, daß er seinen berühmten "Fouché" zu seinem eigenen Vergnügen schrieb und den Verleger davon abhalten wollte, eine zu hohe Auflage zu ris-kieren, weil er niemals geglaubt hätte, daß die schon kurzfristigüber 50000 lag, daß die "Sternstunden der Menschheit" als Schulbuch eine Viertelmillion Auflage erreichten und seine nur als Entwurf aufgeschriebene "Volpone"-Bearbeitung ihm nicht zuletzt vom Hoftheater Dresden aus den Händen gerissen wurde und international Furore machte. Schließlich galt Zweig zu seiner Zeit als einer der am häufigsten übersetzten deutschen Schriftsteller. Seine zusammenfassenden Worte des jüdischen Schicksals jener Tage, das er auch in erschütternden Einzelheiten erlebt und festgehalten hat, lasten in ihrer Konzentration besonders schwer. Unter Hinwendung auf Siegmund Freud formuliert er: "Je länger einer auf Deutschland vertraut hatte, je schwerer er sich von der geliebten Heimat losgerissen, um so härter war er gezüchtigt worden. Erst hatte man den Juden ihre Berufe genommen, ihnen den Besuch der Theater, der Kinos, der Museen verboten und den Forschern die Benutzung der Bibliotheken. Dann hatte man ihnen die Dienstboten genommen und die Radios und Telefone aus den Wohnungen, dann die Wohnungen selbst, dann ihnen zwangsweise den David-Stern angeheftet ... Wer nicht ging, den warf man in ein Konzentrationslager, wo deutsche Zucht auch den Stolzesten mürbe machte."

Eine seismographische Betroffenheit ließ den Dichter der "Schachnovelle" seine Erinnerungen an die Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in London in Worte fassen, die auch im 21. Jahrhundert ihre drohende Bedeutung nicht verloren haben:

"Da waren irgendwo im Unsichtbaren ein Dutzend anderer Menschen, die man nicht kannte, die man nie gesehen, ein paar Leute in der Wilhelmstraße in Berlin, am Quai d'Orsay in Paris, im Palazzo Venzia in Rom und in der Downing Street in London, und diese zehn oder 20 Menschen, von denen die wenigsten bisher besondere Klugheit oder Geschicklichkeit bewiesen, sprachen und schrieben und telefonierten und paktierten über Dinge, die man nicht wußte. Sie faßten Entschlüsse, an denen man nicht teilhatte und die man im einzelnen nicht erfuhr und bestimmten doch damit über mein eigenes Leben und das jedes anderen in Europa. In ihren Händen und nicht mehr in meinen eigenen lag jetzt mein Geschick. Sie bestimmten für Millionen Krieg oder Frieden. Und da saß ich wie all die anderen in meinem Zimmer wehrlos wie eine Fliege, machtlos wie eine Schnecke, indes es um Tod und Leben ging."

Trotzdem resümiert Zweig am Ende: "Jeder Schatten ist im Letzten doch auch Kind des Lichts, und nur wer Hell und Dunkel, Krieg und Frieden, Aufstieg und Niederlage erfahren, nur der hat wahrhaft gelebt."

 

Stefan Zweig wurde vor 125 Jahren am 28. November 1881 in Wien geboren. In der Donaustadt besuchte er Gymnasium und Universität und veröffentlichte dort auch erste Texte in der Presse. Zweig wurde einer der am häufigsten übersetzten Schriftsteller seiner Zeit, reiste viel und kannte viele der führenden Schriftsteller Europas persönlich. Von 1919 bis 1934 lebte er in seinem Salzburger Haus, nahe der deutschen Grenze. Mitte der 30er Jahre emigrierte er nach England. 1940 ging er von dort aus mit seiner zweiten Frau Elisabeth nach Brasilien, wo er am 22. Februar 1942 aus Verzweiflung über den in seiner Heimat Europa um sich greifenden Nationalsozialismus gemeinsam mit ihr in Petropolis bei Rio de Janeiro aus dem Leben schied. Zu seinen bekanntesten Werken zählen "Die Schachnovelle", "Fouché" und die "Sternstunden der Menschheit".


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