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25.11.06 / Schiller im Gulag / Ehemaliger Sowjetgefangener erinnert an Kultur in Kriegslagern

© Preußische Allgemeine Zeitung / 25. November 2006

Schiller im Gulag
Ehemaliger Sowjetgefangener erinnert an Kultur in Kriegslagern

Ein Buch über Amüsantes aus sowjetischen Kriegsgefangenenlagern? Sind Amüsement und Gulag nicht ein Widerspruch in sich?

85 Jahre ist er alt, bei seinen Kameraden in der Kriegsgefangenschaft weithin bekannt als Hein Mayer, im bürgerlichen Leben Karl-Hans Mayer. Nach drei wissenschaftlichen Werken über die Kriegsgefangenen in der Sowjetunion hat er nun ein Buch mit dem Titel "Die Muse im Gulag - Überlebensstrategien gegen Hunger und Hoffnungslosigkeit" geschrieben, das man in einem Zug durchliest.

Über zehn Jahre lang war Mayer in der Gefangenschaft der Sowjets. Er gehörte zu jenen 37500, die entgegen den Absprachen der Siegermächte (und natürlich auch gegen jedes Völkerrecht) Ende 1948 nicht entlassen wurden. Die Sowjetunion brauchte Arbeitskräfte. Daher hatte man vorausschauend von 1945 an Listen von Kriegsgefangenen angelegt, die den Siegern aufgefallen waren: Angehörige der Division Brandenburg, der Waffen-SS, der Feldgendarmerie, der Fallschirmjäger, aber auch HJ-Führer, Ia- und 1c-Offiziere und aller möglichen sonstigen, die von antifaschistischen Spitzeln denunziert worden waren. Sie sollten nicht repatriiert werden. Man stellte sie kurzer Hand vor Gerichte und verurteilte sie zum Tode, um sie anschließend zu 25 Jahren Zwangsarbeit zu "begnadigen", So konnten die Sowjets behaupten, keine Kriegsgefangenen, sondern nur noch "Kriegsverbrecher" in Gewahrsam zu haben. Beispielsweise war der Fahrer des Obersten Luitpold Steidle zu 25 Jahren verurteilt, weil er einen "faschistischen General" ohne Visum und bewaffnet durch die Sowjetunion gefahren habe. Ironie der Geschichte: Eben dieser Oberst hatte sich gleich nach der Gefangennahme auf die Seite der Sowjets geschlagen und betätigte sich im Nationalkomitee Freies Deutschland gegen seine ehemaligen Kameraden. Nach Gründung der DDR wurde er dort sogar General. Sein Fahrer aber blieb im Lager.

Die ersten vier Jahre der Gefangenschaft blendet Mayer aus - sie waren zu grausam, die Opfer jener Zeit zu groß. Danach begannen sich die Verhältnisse für die Überlebenden allmählich zu bessern, schon weil man ihre Arbeitskraft ausnutzen wollte. Inzwischen hatten die Gefangenen Nachrichten an ihre Angehörigen schicken können, die zunehmend mit der Besserung der Lebensbedingungen im Westen ihren Söhnen, Vätern, Ehemännern Pakete schickten. Mayer befand sich in einem Lager in Stalingrad, um mit seinen Kameraden den Wolga-Don-Kanal zu bauen. Langsam erwachte wieder der Lebenswille; ein Zeichen dafür waren die Aktivitäten auf allen Gebieten der Kulturarbeit.

Man liest es mit Staunen, was die Gefangenen auf die Beine stellten, obwohl eigentlich alle Mittel dazu fehlten. Es begann mit Erzählrunden, die sich zu Vortragsabenden ausweiteten. Theatergruppen bildeten sich, Chöre fanden sich zusammen, Orchester wurden gegründet, die von den Sowjets sogar mit erbeuteten Musikinstrumenten ausgestattet wurden. Mit primitiven Mitteln wurde eine Bühne errichtet, deren Ausstattung im Laufe der Jahre immer raffinierter wurde. Man trug zusammen, was man einmal - in der Schule, der Universität, im Beruf - auswendig gelernt hatte: Gedichte, Szenen aus Schauspielen, Arien aus Opern und Operetten. Schauspieler schrieben die Texte, die sie noch im Kopf hatten, auf Zementsackpapier. "Kabale und Liebe" von Schiller stand auf dem Spielplan, die "Feuerzangenbowle" wurde in Szenen gefaßt. Alle weiblichen Rollen wurden von Männern dargestellt. Und das alles mußte neben der schweren Arbeit bewältigt werden, die die Zwangsarbeiter zu leisten hatten.

Die Kriegsgefangenen waren kulturell ausgehungert. Mit um so größerer Begeisterung gestatteten sie ihre aus eigener Initiative geborenen kulturellen Tätigkeiten. Aus nichts wurden Kostüme geschneidert, aus den seltsamsten Provisorien Perücken angefertigt. Reichsbühnenbildner Benno von Arent sorgte für Kulissen. Alles wurde unternommen, um die Hoffnung aufrecht zu erhalten.

Erst nach harten Verhandlungen Kanzler Adenauers mit der sowjetischen Führung fanden die letzten deutschen Kriegsgefangenen Anfang 1956 die Freiheit, in der Bundesrepublik begeistert gefeiert. Zwar behaupteten die Sowjets, der letzte Gefangenentransport habe aus "Verbrechern" bestanden, deren Akten an die deutschen Behörden ausgeliefert werden sollten, doch wartete man darauf vergeblich. Inzwischen sind fast alle, die die Wende noch erlebt haben, von russischen Behörden rehabilitiert.

Auch dieses auf den ersten Blick amüsante Buch gehört zur Geschichte unserer Zeit. Es zeugt von dem Lebenswillen und auch der Qualifikation der damaligen Deutschen, die sich nach Rückkehr in die Heimat daran machten, Deutschland wieder aufzubauen. Ein verdienstvolles und durchaus höchst lesenswertes Buch! Hans-Joachim von Leesen

Hein Mayer: "Die Muse im Gulag - Überlebensstrategie gegen Hunger und Hoffnungslosigkeit", bod, Norderstedt 2006, geb., zahlr. Abb., 240 Seiten, 16,80 Euro, Best.-Nr. 5949


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