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16.12.06 / ... ward nicht mehr gesehn / Das Tantchen aus Ajonken war ein liebenswerter Mensch

© Preußische Allgemeine Zeitung / 16. Dezember 2006

... ward nicht mehr gesehn
Das Tantchen aus Ajonken war ein liebenswerter Mensch
von Christel Bethke

Ajonken war Suleyken ähnlich, jenem legendären Dorf, von dem Siegfried Lenz erzählt. Ein Dorf, wie aus der Welt, und war doch die Welt. Ganz und gar. Später erhielt es einen anderen Namen und, so will es erscheinen, da veränderte es sich. Im Gedächtnis aber blieb das alte Ajonken, eine Stunde von der nächsten Bahnstation entfernt.

Tantchen war Großmutters jüngere Schwester. Sie lebte in Ajonken. Verheiratet mit Onkel Fritz, der angeblich nichts zu sagen haben sollte. Ein Stubbekopp eben. Aber warum sollte er auch was zu sagen haben? Bei dem Tantchen! Bei der Hochzeit der Großeltern soll der Bräutigam bei einem Tanz zur neuen Schwägerin gesagt haben: "Hätte ich deine Schwester nicht geheiratet, hätte ich dich genommen." Dabei hatte das Täntelchen schon Onkel Fritz. Na, was eben so auf solch einer Bauernhochzeit geredet wird, wenn einer über den Durst getrunken worden ist. Ist sicher heute noch so.

Während des Krieges hatte das Tantchen einen Kriegsgefangenen zum Helfen in der Wirtschaft, den sie genauso gut bekochte und versorgte wie ein Familienmitglied. Das war Jean. Der holte auch die Besucher von der Bahn, mißtrauisch beäugelt von der Großmutter. Aber nichts war auszusetzen, die Pferde geschniegelt und gebügelt, alles picco bello. Da war kein Haar in der Suppe zu finden. Die Fahrt vom Bahnhof bis zum Dorf hätte ewig dauern können, denn das Wort von der Vorfreude, die am längsten hält, ging in die Freude über, die Tantchen dann selbst verkörperte: In frischer Schürze empfing sie die Gäste in der offenen Tür. Der Kaffeetisch, mit bestick-ter Decke und ihrem besten Service eingedeckt. In der Mitte ihr berühmter Fladen, flach, mit vielen Streuseln also. Köstlich durch ihre Butter von eigenen Kühen, die sie auch auf dem Markt verkaufte, wenn in der Stadt Markttag war.

Am schönsten waren die Ferien bei ihr. Nie konnte sie genug Kinder um sich haben. Was konnte sie nicht alles erzählen, sich an Geschichten ausdenken, die fast alle mit "... und ward nicht mehr gesehn" endeten. Das blieb irgendwie offen, man machte sich Gedanken über die Hauptfigur, ihren Verbleib, die nun das Glück gefunden hatte und nicht mehr gesehen ward.

"Ich sehe was, was du nicht siehst" war ebenfalls ein beliebtes Spiel. Wie aufregend, wenn es zunächst "kalt" hieß, dann "lauwarm" bis es zuletzt "heiß, heiß" hieß. Dieses Hinauszögern beim Nennen des zu Erratenden hatte auch damit zu tun, daß man ohne Ende am liebsten weiterraten würde. Und niemals war etwas bei ihr schlimm. Für die zerschlagene Schüssel bekam der Übeltäter sogar noch ein Trostpflaster, denn er sollte sich nicht grämen. Nicht bei ihr. Und daß aufgeschlagene Knie bis zur Hochzeit wieder heil waren, wußte sie auch. Zeit hatte sie für ihre kleinen Besucher immer, ja, sie hatte soviel davon, daß sie welche, wie sie beteuerte, borgen konnte für Leute, die zu wenig davon besaßen. Zinsen nahm sie nicht dafür.

Nach Kriegsende wartete man noch eine ganze Weile auf sie, sah sie, als sie nicht kommen wollte, im Sommerhut, den sie an Markttagen trug, immer weiter fahren, bis sie nicht mehr gesehen ward. Kaum vorstellbar, daß es anders hätte sein können.


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