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13.01.07 / Kleiner Bruder ganz groß / Michael Quasthoff schreibt über seinen Bruder Thomas, der als Bariton die Welt erobert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-07 vom 13. Januar 2007

Kleiner Bruder ganz groß
Michael Quasthoff schreibt über seinen Bruder Thomas, der als Bariton die Welt erobert
von Helga Steinberg

Betrachte, meine Seel" ist der Titel einer neuen CD mit den schönsten geistlichen Arien von Bach bis Mendelssohn-Bartholdy (Deutsche Grammophon DGG 477 6230), die der Bariton Thomas Quasthoff mit der Staatskapelle Dresden unter Dirigent Sebastian Weigle aufgenommen hat. Diese Einspielung hat jetzt die Nominierung für den "Grammy", den "Oscar" der Musikbranche, in der Kategorie "Best Classical Vocal Performance" erhalten. Die endg¸ültige Entscheidung fällt am 11. Februar. Dann werden in der 49. Grammy-Award-Verleihung in Los Angeles die begehrten Schallplattenpreise vergeben.

Quasthoff ist mittlerweile ein "alter Hase" in Bezug auf Preisverleihungen. Den ersten erhielt er, sozusagen als Grundstein für seine Karriere, 1988 beim Internationalen Musikwettbewerb der ARD in München. 1996 sind es gleich zwei: der "Schostakowitsch-Preis" und der "Hamada Trust / Scotsman Festival Prize des Edinburgh International Festival". Im Jahr 2000 wird er mit seinem ersten "Grammy" geehrt, 2001 mit dem "Echo"-Preis und dem "Cannes Classical Award". 2004 erhält er den Ehrenring der Stadt Hildesheim, den "Echo"-Preis und wieder einen "Grammy" ... Das Bundesverdienstkreuz und der Große Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland waren ebenfalls unter den Auszeichnungen. Die Reihe ließe sich fortführen. Lang ist auch die Reihe der großen Dirigenten, unter denen Thomas Quasthoff gesungen hat: Sir Simon Rattle, Claudio Abbado, Kent Nagano, Christian Thielemann, Pierre Boulez, Daniel Barenboim.

Der Bariton mit der ausdrucksstarken Stimme ruht sich nicht auf seinen Lorbeeren aus. In diesen Tagen ist er in den USA, um in Philadelphia und New York Mahlers "Kindertotenlieder" zu singen. Im Februar sind Auftritte in Berlin in Haydns "Schöpfung" und in Dresden in Mozarts "Requiem" geplant. Im März gibt er in New York, Wien, Köln und Berlin Jazz-Konzerte (seine zweite große Leidenschaft neben der klassischen Musik) mit dem Trompeter Til Brönner.

Eine beispiellose Karriere. Dabei hatte es gar nicht so rosig ausgesehen, als Thomas Quasthoff am 9. November 1959 als Sohn des Amtsinspektors beim Landgericht Hans Quasthoff und Frau Brigitte in Hildesheim das Licht der Welt erblickte. Mutter Brigitte hatte wie so viele andere Frauen auch auf die Versprechungen des Pharmakonzerns gebaut, der Schlaf und Ruhe in Tablettenform verkaufte und Schwangeren versicherte, Mutter und Kind würden nicht geschädigt werden. Der Name des Medikaments: Contergan. Thomas kam ohne Arme, Oberschenkel und Knie zur Welt, aus seinen Schultern waren flossenähnliche Hände mit drei und vier Fingern gewachsen. Bruder Michael, drei Jahre älter als Thomas, erinnert sich, seine Mutter nachts oft weinen gehört zu haben, während Vater "versuchte, das Elend nach außen mit stoischer Gelassenheit zu nehmen". Schon als kleines Kind habe Thomas ein "nicht zu überhörendes, alles durchdringendes Organ" gehabt. "... er vermochte, sofern er wollte, die nervtötende Sirene von einem Augenblick zum anderen in eine wunderschöne, vorerst nur Verwandte, Freunde und Bekannte verblüffende Singstimme zu verwandeln." Thomas trällerte alles mit, was es damals zu hören gab: von Rudi Schurickes "Capri-Fischer" bis zu Freddy Quinns "Junge, komm bald wieder". Vor dem Einschlafen "summte und tirilierte, lallte und brummte" er die Schlagerparade des NDR, "bis ihm endlich mal die Augen zufielen".

Die Erinnerungen von Michael Quasthoff an die Kindheit, aber auch an den Aufstieg des Bruders zu einem der profiliertesten Klassikinterpreten weltweit lesen sich spannend und amüsant zugleich, geben sie doch auch Einblick in das sehr persönliche Leben des großen Künstlers. Illustriert ist das Buch mit 150 ausdrucksvollen Fotos, die größtenteils aus den privaten Fotoalben stammen und hier erstmals veröffentlicht werden, eine ideale Ergänzung zu der 2004 bei Ullstein erschienen Autobiographie "Die Stimme". Michael Quasthoff schreibt einfühlsam und voller Humor über den kleinen Bruder, der so groß geworden ist, über seine Wahrhaftigkeit, seine unvergleichliche Ausstrahlung, sein Charisma, das ihn zu einem besonders liebenswürdigen Menschen macht. Entstanden ist eine Liebeserklärung der besonderen Art.

Michael Quasthoff: "Thomas Quasthoff - Der Bariton", Henschel Verlag Berlin 2006, 176 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 24,90 Euro

 

Quasthoffs Leiden

Thalidomid ist der Wirkstoff des Schlaf- und Beruhigungsmittels ,Contergan', das in den Jahren 1958 bis 1963 zu zahlreichen schweren Schädigungen an ungeborenem Leben führte", liest man im Lexikon. "Durch die Einnahme des Mittels innerhalb der ersten drei Schwangerschaftsmonate kam es zu der Fruchtschädigung. Besonders auffallend sind Fehlbildungen der Arme, Hände, Beine und Ohrmuscheln. Eine geistige Behinderung liegt meist nicht vor. Obwohl der Herstellerfirma 1961 bereits 1600 Warnungen über beobachtete Fehlbildungen an Neugeborenen vorlagen, wurde ,Contergan' nach wie vor vertrieben. Zu jenem Zeitpunkt hatte es 46 Prozent des barbituratfreien Schlafmittelmarktes erobert. Etwa 5000 contergangeschädigte Kinder wurden laut ,Bundesverband Contergangeschädigter' in den darauffolgenden Jahren geboren. Andere Quellen sprechen von 10000 Fällen weltweit, von denen 4000 auf Deutschland entfielen. Die Hälfte der Behinderten ist bereits verstorben. Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von während der Schwangerschaft gestorbenen Kindern.

In Deutschland wird geschädigten Menschen unter anderem mit Leistungen durch die ,Conterganstiftung für behinderte Menschen' geholfen. Ebenso wurde die ,Aktion Sorgenkind' (heute: ,Aktion Mensch') aufgrund dieses Vorfalls gegründet."


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