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13.01.07 / Innerhalb weniger Stunden mußten wir gehen / Ein neunjähriges Mädchen erlebt Flucht und Vertreibung aus der Heimat Ostpreußen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-07 vom 13. Januar 2007

Innerhalb weniger Stunden mußten wir gehen
Ein neunjähriges Mädchen erlebt Flucht und Vertreibung aus der Heimat Ostpreußen
von Hildegard Eisold

Am 20. Januar 1945 klopfte es an der Fensterscheibe. Es wurde uns eine traurige Nachricht überbracht. Wir sollten am 21. Januar 1945 unsere geliebte Heimat, unser Dorf Siegersfeld, Kreis Lyck, verlassen. Selbst wir Kinder waren so aufgeregt, daß wir keinen Schlaf finden konnten. Es war eine unruhige Nacht. Hühner und Enten wurden geschlachtet und dann wurde gepackt. Zwei Leiterwagen wurden fertig gemacht. Auf den einen Wagen kam der große Teppich aus dem Wohnzimmer als Plane. Auf den Leiterwagen wurden dann die Sachen, die wir mitnehmen wollten, verstaut. Obenauf die Federbetten, in denen wir schliefen.

Der Treck fuhr über Mostolten auf der Straße, die von Lyck nach Arys führt. Unterwegs mußten wir oft anhalten, um die Soldaten, die auf dem Rückzug waren, vorbeizulassen. Wir Kinder lagen die meiste Zeit unter den Federbetten, denn es war bitterkalt. Viele Erwachsene sind neben den Wagen gegangen, um sich etwas warm zu laufen. Es war eine zermürbende Fahrt. Als der Russe unseren Treck schließlich doch einholte, hatten wir uns gerade in einem Haus einquartiert, um dort die Nacht zu verbringen. Wir haben mit der Familie G. im Schlafzimmer auf das Erscheinen der Russen gewartet, um uns mit erhobenen Händen zu ergeben. Durch das Schlafzimmerfenster konnte man sehen, wie die Russen die Treck-wagen durchwühlten.

Die Polen, die lange auf unserem Hof gearbeitet hatten und die wir zum Lenken der Wagen mitgenommen hatten, freuten sich riesig, daß der Krieg zu Ende war. Sie nahmen unsere zwei Wagen, spannten die Pferde an und wollten wieder in ihre Heimat zurückfahren. Frau G. rief ihnen noch zu, sie sollten uns mitnehmen. Doch die Polen hörten nicht darauf. Dies war unser Glück, denn auf dem Heimweg sahen wir sie erschossen im Straßengraben liegen. Unsere ganzen Sachen lagen auf der Straße verstreut.

Als die Russen in das Schlafzimmer kamen, brachten sie uns mit vorgehaltenem Maschinengewehr in den Pferdestall. Dort verbrachten wir unter großer Angst die Nacht. Am nächsten Morgen kamen einige Russen in den Pferdestall und wollten uns erschießen. Zu unserem Glück erschien ein russischer Offizier, der die Soldaten zurechtwies und aus dem Stall warf. Dieser Offizier schrieb uns einen Zettel, auf dem stand, daß wir Polen wären und man uns ziehen lassen möge.

Wir machten uns gleich auf den Heimweg. Die Strecke, die wir mit Pferd und Wagen zurückgelegt hatten, mußten wir jetzt zu Fuß gehen. Unterwegs fanden wir einen kleinen Schlitten, auf den wurde die fünfjährige Ilse gesetzt. Da wir alles verloren hatten, besaßen wir natürlich auch kaum warme Sachen. Mutti zog ihre warme Jacke aus und hängte sie Ilse um.

Als wir auf die Hauptstraße kamen, sahen wir das fürchterliche Elend. Viele Menschen waren erschossen und durch die Kälte ganz schwarz. Die Straßen waren übersät mit toten Menschen, Kleidung und Federn. Wir waren die ersten Deutschen, die der Russe eingeholt hatte, dementsprechend hatte er gewütet.

Unserer Mutter ging es von Tag zu Tag schlechter. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Ich bin mit ihr zurück geblieben. Mutti blieb oft stehen und wollte sich am liebsten in den Schnee legen. Ich habe sie immer weiter gezerrt und gebettelt, sie möge doch weitergehen, die anderen wären schon so weit voraus, daß man sie nicht mehr sehen konnte. Als wir von der Straße auf unseren Hof abbogen, sahen wir unser Wohnhaus in Schutt und Asche liegen. Wir sind dann weiter über unseren Hof und die Koppel zu unseren Nachbarn G. gegangen. Dort hat sich Mutti gleich hingelegt. Die Hände und Füße waren erfroren. Ich nehme auch an, daß sie an einer Lungenentzündung erkrankt war. Am 6. Februar gegen 0.30 Uhr ist sie dann von uns gegangen. Am nächsten Tag haben die Erwachsenen unsere Mutter in unseren Obstgarten gebracht. Alle Landwirte hatten einen Schützengraben ausheben müssen, in diesen Schützengraben wurde Mutters Leichnam gelegt.

Frau G. war nicht sehr erfreut, daß wir jetzt bei ihr waren. Edeltraut, damals elfeinhalb Jahre alt, hatte sich den linken Fuß erfroren. Die blau-schwarzen Zehen taten ihr sehr weh. Sie konnte nicht auftreten und lag die meiste Zeit im Bett. Eines Tages fing der Fuß an, fürchterlich zu stinken. Die erfrorenen Zehen waren in Verwesung übergegangen. Badewasser für Edeltrauts Fuß war aufgetauter Schnee. Eines Tages habe ich die abgefaulten Zehen mit dem Badewasser auf den Hof geschüttet ...

In Neuendorf wurde eine Kolchose eingerichtet. Die Deutschen mußten aus den leerstehenden Häusern und Stallungen Möbel, Getreide, Heu und was sonst noch zu finden war, zusammentragen und in Kisten verpacken. Diese Kisten wurden nach Rußland geschickt. Frau G. erzählte uns, Kinder dürften nicht nach Neuendorf. So waren wir drei Kinder von elfeinhalb, fast neun und fünfeinhalb Jahren allein in dem Haus auf dem Abbau. Mit meinen fast neun Jahren habe ich meine beiden Schwestern versorgt. Wir quartierten uns in der Küche ein. Über Nacht konnte ich einigermaßen das Feuer im Herd halten. Am Tag taute ich Schnee auf und kochte Klunkersuppe aus Mehl.

Nach kurzer Zeit wurden wir von einigen Russen doch noch nach Neuendorf gebracht. Dort waren natürlich viele Mütter mit ihren Kindern. Wir kamen zu einer Frau mit einem Kleinkind. Diese Frau hatte ein Verhältnis mit einem Russen, der sie mit Verpflegung versorgte. So hatten wir auch mehr zu essen. Im Frühjahr, als der Boden aufgetaut war, sind Frieda G. und ich nach Siegersfeld gegangen. Wir haben Muttis Grab zugeschaufelt. Der Hof lag so trostlos da, das abgebrannte Wohnhaus, die Stallungen leer, kein Mensch weit und breit.

Im Sommer hieß es: "Alle Frauen mit drei Kindern dürfen auf ihre Höfe zurück." Einer älteren Frau aus Kotten fiel ein, daß sie mit uns verwandt sei. Um wieder auf ihren Hof zu kommen, nahm sie uns zu sich.

Der Sommer verging. Dann hieß es, ein Transport nach Westen würde aufgestellt. Wir wurden in Güterwagen gepfercht. Häufig standen wir so dicht zusammen, daß ein Umfallen nicht möglich war. Es wurde eine lange Fahrt. Oft mußte die Fahrt unterbrochen werden, da die Gleise durch Bombenangriffe defekt waren. Tagsüber stand der Zug still, nachts fuhr er ganz langsam. So konnten die Russen und Polen aufspringen und unsere letzte Habe plündern. Manche Tage und Nächte stand der Zug auf offener Strekke. Die Frauen haben dann auf den Feldern geerntet, was zu ernten war. Sie haben Ziegelsteine zusammengestellt und Feuer gemacht.

Mitte November sind wir in Ueckermünde in der sowjetischen Besatzungszone angekommen. Wir wurden in einem Kinderheim abgegeben. Dort wurde Ilse gleich isoliert. Es hieß, sie habe Typhus. Wir wußten drei Monate nicht, wo sie war und ob sie noch lebte. Wenn ich mal nachfragte, kannte sie keiner. Edeltraut kam wegen ihres Fußes in ein Krankenhaus. So waren wir drei dann doch getrennt. Edeltraut konnte ich besuchen. Ich wußte, wo sie war. Bloß die Ungewißheit über Ilses Verbleiben machte uns zu schaffen.

Im Kinderheim war es mit der Ernährung am schlimmsten. Weihnachten rückte immer näher. Es wurden Weihnachtslieder gesungen. Uns allen liefen bei den feierlichen Melodien die Tränen. Heiligabend gab es dann eine große "Bescherung". Jedes Kind bekam ein halbes Brot. Das war für uns ein großes Geschenk. Wir hüteten die Kostbarkeit, teilten uns das Brot in kleine Portionen, um noch lange etwas davon zu haben. Wer nicht aufpaßte, mußte feststellen, daß sein Brot weg war. Von anderen Kindern gegessen.

Inzwischen hatten alle Kinder keine Haare mehr: Läuse. Jungen und Mädchen konnte man nur noch an den Kleidern voneinander unterscheiden. Zu den Läusen kam noch die Krätze. Wir haben uns alle gegenseitig angesteckt.

Eines Tages kam ein Kind zu mir und sagte: "Deine Schwester ist dort hinten im Zimmer." Ich lief gleich hin. Sie war, wie wir alle, sehr schmal und blaß geworden, auch sie hatte ihre Haare lassen müssen.

Um Ostern 1946 kamen zu unserer großen Freude meine Tante und mein Onkel, denen zu Ohren gekommen war, daß unsere Mutter in Siegersfeld verstorben war und wir auf uns allein gestellt waren. Sie haben uns durch das Rote Kreuz suchen lassen. Unser Vater hatte sich inzwischen aus englischer Gefangenschaft gemeldet. Langsam, ganz langsam, ging es wieder aufwärts.

Foto: Grausames Schicksal: Auch Kinder wurden von der unbarmherzigen Kriegsfurie und ihren Folgen nicht verschont.


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