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13.01.07 / Vom Reich abgerissen und isoliert / Königsbergs Hafen zwischen den Weltkriegen: ein Spiegel der ostdeutschen Wirtschaft unter den Bedingungen des Versailler Vertrages

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-07 vom 13. Januar 2007

Vom Reich abgerissen und isoliert
Königsbergs Hafen zwischen den Weltkriegen: ein Spiegel der ostdeutschen Wirtschaft unter den Bedingungen des Versailler Vertrages
von Stefan Kiekel

Als Hauptstadt der Provinz Ostpreußen war Königsberg traditionell eine Stadt des Handels und des internationalen Warenaustausches. Schon das erhalten gebliebene Rechnungsbuch aus den Jahren um 1391 des späteren Königs von England, Heinrich IV., der mehrere Monate in Königsberg weilte, berichtet vom Kauf von kostbarem Geschirr aus Zinn und Silber, spanischem Wein, niederländischen Spitzen und Pariser Spiegeln. Wie Danzig und Elbing war auch Königsberg als Hansestadt eingebunden in ein dichtes Geflecht von europäischen Wirtschafts- und Kommunikationsverbindungen, die sich durch den Bernsteinhandel bis in den Orient erstreckten. Vom Deutschen Orden von vornherein als Handelsstadt angelegt, vollzog sich die Entwicklung Königsbergs nicht nur als Bildungs-, Verwaltungs- und Militärmetropole im deutschen Osten, sondern vor allem auch als dessen zentraler Handelsort. Aus- und Einfalltor der Warenströme war seit jeher der Königsberger Hafen am Pregel, ein klassischer binnenstädtischer Hafen, wie er im Mittelalter das Zentrum so vieler Kaufmannsstädte der deutschen Hanse in Nordeuropa war.

Gelegen am tiefsten Punkt, den die Ostsee in das europäische Festland einschneidet, stellte der Königsberger Hafen die kürzeste Verbindung zu den Hauptgetreideausfuhrgebieten Rußlands sowie der Ostsee dar. So verdankte der Hafen seine Aufwärtsentwicklung in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg vor allem seiner Funktion als Transithafen für russische Produkte. Damit lag das eigentliche Hinterland des Hafens weniger im deutschen Ostpreußen als im riesigen russischen Wirtschaftsgebiet bis zum Schwarzen Meer. Königsbergs ganzjährige Eisfreiheit und die bequemen Eisenbahnverbindungen in die Getreideanbaugebiete der Ukraine in Verbindung mit deutsch-russischen Handelsverträgen, die Königsberg tariflich russischen Häfen gleichstellten, trugen dazu bei, daß vor dem Ersten Weltkrieg ein beachtlicher Teil der Ausfuhren des Königsberger Hafens von insgesamt eine Million Tonnen russischer Herkunft war. Die wichtigsten Güter waren Getreide, Holz, Flachs und Hanf. Im Gegenzug war Königsberg der "Haushafen" der west- und südrussischen Provinzen, die sich über den nach Westeuropa günstig liegenden Hafen mit Industrieprodukten, Kolonialwaren und auch Heringen versorgten.

Daneben war Königsberg Welthandelsplatz für russische Linsen, wobei sich die Königsberger Kaufmannschaft gerade auf diesem Gebiet durch Verbesserung der Sorten, durch Optimierung der Reinigung und Sortierung eine führende Stellung im Welthandel erarbeitete und Linsen geradezu zu einer Königsberger Spezialität machte.

Von großer Bedeutung für den Hafen war eine gut ausgebaute Binnenschiffahrt als Zubringer und Verteiler für den Seehandel von und nach Königsberg. Über Flüsse und Kanäle war der Pregel mit der Memel und damit mit dem russischen Binnenschiffahrtsnetz bis zum Schwarzen Meer verbunden. Der Anschluß an das Kanalsystem des Deutschen Reiches wurde durch das Frische Haff und die Elbinger Weichsel hergestellt.

Das Aufstreben des Königsberger Hafens, das 1913 in der beschlossenen Erweiterung des Hafens seinen Niederschlag fand, wurde vom Beginn und vor allem Ausgang des Ersten Weltkrieges jäh unterbrochen. Durch Federstrich verlor das Deutsche Reich in den Pariser Vorortverträgen von 1919 als Resultat der deutschen Niederlage die Provinzen Westpreußen und Posen, die an das neuentstehende Polen abgetreten werden mußten. Danzig wurde "Freie Stadt", gehörte aber zollpolitisch zu Polen. Damit verlor Ostpreußen im Westen durch den "polnischen Korridor" den direkten Landanschluß an das Reich. Als Litauen das Memelland in seinen Machtbereich eingliederte, ging Ostpreußen außerdem seiner ökonomisch so bedeutsamen Nachbarschaft zu Rußland verlustig, das als Verlierernation des Weltkrieges und in den Wirren des Bürgerkrieges steckend dem Auftauchen Polens und der baltischen Randstaaten auf der Landkarte tatenlos zuschauen mußte. Von einen Tag auf den anderen lag Ostpreußen als "Insel" inmitten polnisch und litauisch gewordenen Staatsgebietes, das sich zudem durch hohe Zollmauern von der Provinz abschottete. Die alten Handelsverbindungen nach Rußland, das nun keine direkte Grenze zum Deutschen Reich mehr hatte, waren zerrissen. Posen und Westpreußen als traditionelle Hauptabsatzgebiete ostpreußischer landwirtschaftlicher Produkte lagen nahezu unerreichbar hinter Grenzanlagen und Zollschranken. Kurzum: Der Versailler Vertrag hatte nicht nur ein riesiges Wirtschaftsgebiet mit eingespielten internationalen Handelsbeziehungen zerrissen, sondern auch das Gesicht Ostmitteleuropas komplett verändert. Das Hinterland des Königsberger Hafens, das vor dem Krieg bis zum Schwarzen Meer gereicht hatte, endete nun an der deutsch-polnisch-litauischen Demarkationslinie. Ergebnis der Versailler Grenzziehung war ein beispielloser wirtschaftlicher Niedergang Ostpreußens, der vor dem Hafen Königsbergs keinen halt machte. Die Zahlen verdeutlichen dies: Liefen 1913 noch rund 2250 Dampfer Königsberg an, so schrumpfte die Zahl 1924 auf 1200. Von den rund 500000 Tonnen Getreide und Hülsenfrüchten, die vor dem Krieg umgeschlagen wurden, blieb nach Wegfall des russischen Hinterlandes nur knapp ein Zehntel, der Handel mit Flachs und Hanf kam nahezu völlig zum Erliegen. Die malerischen, in Holzfachwerk errichteten Speicherbauten am Pregelufer, die genauso altertümliche wie liebevolle Namen wie "Storch", "Pelikan", "Palmbaum" oder "Till Eulenspiegel" trugen, standen leer.

Das zweite Standbein des Hafens neben dem Getreidehandel, die Holzindustrie, stand zwangsweise still, als Litauen schon bald die Memel sperrte. Wurden vor dem Krieg noch 500000 Tonnen Rundholz aus Rußland die Memel abwärts über den Pregel nach Königsberg geflößt und von dort nach Westdeutschland und England verschifft, kam der Strom nach 1919 schnell zum Erliegen.

War das Mengenverhältnis von Einfuhr und Ausfuhr über See vor dem Krieg nahezu ausgeglichen, überrundete der Empfang von Gütern die Ausfuhr nach dem Krieg um mehr als das Doppelte: Der Hafen rückte als passiver Empfänger von Waren ins Abseits, ohne aktiv selber zu den Warenströmen beitragen zu können. Schiffe liefen den Hafen voll an und verließen ihn ohne Rückladung - eine Katastrophe für kühl rechnende Reeder und Schiffsmakler.

Auch die Struktur des Güterverkehrs hatte sich grundlegend durch den Wegfall der russischen Transitgüter geändert. Geringwertige Massengüter wie Kohle, Zelluloseholz und Schwefelkies ersetzten die ehemaligen, hochwertigeren Transitgüter Rundholz, Getreide, Hülsenfrüchte und Flachs, die vor dem Krieg in Königsberg veredelt wurden und damit der Königsberger Kaufmannschaft gute Gewinnmöglichkeiten boten.

Als Nebeneffekt der neuen Grenzziehung im Ostseeraum waren dem Königsberger Hafen zudem kraftvolle Konkurrenten erwachsen: Memel stand unter litauischer Herrschaft, Danzig wurde "polnischer" Haupthafen. Beide jungen Nationen lenkten ihren gesamten seewärtigen Warenverkehr unter planvoller Umgehung Königsbergs nun über die ehemaligen deutschen Häfen, die in ihrem Machtbereich lagen. Eine nationale, auf Autarkie ausgerichtete protektionistische Wirtschaftspolitik beider Länder tat das übrige, die binationalen Güterströme nahezu zum versiegen zu bringen.

Zudem entstand seit 1923 in ehrgeiziger Arbeit und unter großen finanziellen Opfern direkt vor der Haustür Danzigs, in Gdingen, ein neuer polnischer Handelshafen. Tatsächlich sollte dieser Hafen vom Reißbrett bereits im Jahr 1932 den Güterumschlag aller anderen Ostseehäfen einschließlich Stettin überrunden. Die Festen, auf denen der Königsberger Handel vor dem Krieg geruht hatte, waren nicht nur angeschlagen, sie waren weggebrochen. Wenngleich auch das gesamte Deutsche Reich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in eine wirtschaftliche Rezession schlitterte und auch die internationale Schiffahrt durch Abnahme des Welthandelsvolumens in der Friedenszeit in eine allgemeine Schiffahrtskrise geriet, so trafen doch die Ausläufer der Krise Ostpreußen besonders hart. Auch die Landwirtschaft der Provinz hatte unter der Abtrennung vom Reich zu leiden, sie verlor ihre traditionellen nahen Märkte in Posen und Westpreußen. Der umständliche Eisenbahntransport ostpreußischer Waren über polnische Strecken und auf polnischen Zügen durch den Korridor ins Reich verteuerte die Waren bis zur Konkurrenzunfähigkeit. Die nur schwach ausgeprägte Industrie konnte im deutschen Osten mit seiner agrarischen Schlagseite die Masse der entstehenden Arbeitslosen nicht absorbieren. Zudem trug die deutsch-polnische politische Dauerspannung in Wirtschafts- und Finanzkreisen dazu bei, in Ostpreußen weniger ein Land des ungestörten Handels als vielmehr eine potentielle Konfliktregion zu sehen.

Die deutsche Reichsregierung sah sich gezwungen, der notleidenden Provinz unter die Arme zu greifen, um aus der wirtschaftlichen Krise keine politische erwachsen zu lassen. Umfangreiche Förder- und Unterstützungsmaßnahmen aus Berlin wie die sogenannte "Osthilfe" sollten die wirtschaftlichen Notlage der Exklave mindern. Ostpreußen als "schwächstem Punkt im deutschen Reiche" galt fortan das besondere Augenmerk der Reichspolitik auf wirtschaftlichem, politischen und kulturellem Gebiet. Ostpreußen, das in seiner langen Geschichte so viele zukunftsweisende Impulse für die Entwicklung des Reiches gegeben hat, wurde zum Nehmerland, das um sein wirtschaftliches Überleben kämpfen mußte.

Für den Königsberger Hafen äußerte sich die Reichshilfe in Zeiten des wirtschaftlichen Niederganges und der Schiffahrtskrise erstaunlicherweise - in einem Ausbau des Königsberger Hafens. Vor den Toren Königsberg, und damit befreit vom engen Korsett der Innenstadt, entstanden bis 1923 auf einem rund 220 Hekatr großen Gelände drei große neue Hafenbecken mit modernen Lager- und Umschlagseinrichtungen inklusive Gleisanschluß. Der dabei errichtete Getreidespeicher war mit 60000 Tonnen Fassungsvermögen eines der größten Lagerhäuser Europas. Als ergänzende Maßnahme wurde der Königsberger Seekanal ausgebaggert, der Königsberg mit Pillau und damit mit der Ostsee verband. Fortan war Königsberg damit auch für größere Seeschiffe erreichbar. Stolz wurde im Jahr 1932 die Ankunft eines 4700 Nettoregistertonnen großen Tankdampfers in Königsberg verkündet, ein Hoffnungsschimmer für die Königsberger Hafenwirtschaft. In den Jahren der relativen wirtschaftlichen Stabilität der Weimarer Republik in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre versuchte auch Königsberg, wieder an seine alte glanzvolle Handelstradition der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Es gelang zu einem guten Teil, die ausbleibenden Lieferungen aus Rußland durch Holz und landwirtschaftliche Produkte aus dem eigenen ostpreußischen Hinterland zu substituieren und zur Verschiffung ins Reich zu bringen. Doch auch diesem zarten Wiedererwachen konnte die anhaltende Weltwirtschaftskrise in den Jahren nach 1930 mit ihrem Preisverfall für agrarische Produkte ein jähes Ende. Erst in den Jahren ab Mitte der 1930er Jahre nach Abflauen der Weltwirtschaftskrise läßt sich eine gewisse wirtschaftliche Stabilisierung auch des Königsberger Hafens ausmachen. Trotz aller offiziellen Unterstützung konnte Königsberg in der Zwischenkriegszeit nicht an seine Vorkriegsrolle des zentralen Handelsplatzes in der östlichen Ostsee anknüpfen. Zu groß war die Hypothek der Grenzziehung des Versailler Vertrages, zu tiefgehend die spezifischen Problemlagen der abgetrennten Provinz, als daß es zu einer "normalen" Entwicklung des Hafens hätte kommen können. Die Geschichte des Königsberger Hafens ist ein Lehrstück des Einflusses politischer Regelungen auf ökonomische Vorgänge. Sie zeigt die fatalen Auswirkungen von ideologisch motivierten Entscheidungen am "Grünen Tisch" auf jahrhundertealte festgefügte Handelstraditionen und auf ganze Landstriche und Völkerschaften. Mit dem Untergang Königsbergs 1945 endet die stolze Tradition der alten deutschen Hansestadt am Pregel, der Schiffe auf Haff und Strom und der Männer, die sie befuhren.


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