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10.02.07 / Rückkehr nach Caymen / Was der Rundfunkjournalist und Buchautor Jochen Thies beim Besuch seiner Taufkirche erlebt hat

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06-07 vom 10. Februar 2007

Rückkehr nach Caymen
Was der Rundfunkjournalist und Buchautor Jochen Thies beim Besuch seiner Taufkirche erlebt hat

Die Allee ist lang und für einen Augenblick sieht Ostpreußen heil aus. Die Landschaft wirkt intakt, die Felder sind kultiviert, und nirgendwo sieht man in den kommenden Minuten ein zerstörtes Gebäude. Die Insassen des kleinen Reisebusses schauen gespannt nach vorn, denn am Ende der von Bäumen gesäumten Straße zeichnen sich die Konturen eines Kirchturms ab. Im Sonderverwaltungsbezirk Königsberg ist das ein ungewöhnlicher Anblick. Nicht von ungefähr weist die russische Reiseführerin, welche die Gruppe begleitet, auf der Überlandtour auf die wenigen Exemplare hin, die den Endkampf um Ostpreußen 1944/45 überdauert haben. Damit fehlt eine entscheidende Orientierung, welche die meisten deutschen Landschaften auszeichnet, wenn man an Westfalen denkt mit seinen Chausseen aus der Zeit von Napoleon I, die auf die Kirchen zulaufen, oder an Oberbayern mit sanften Hügeln und Zwiebeltürmen. Im Oderbruch, rund um die Seelower Höhen, wo im April 1945 die entscheidende Schlacht um Berlin stattfand, sind seit der Wiedervereinigung die zerstörten oder beschädigten Kirchtürme übrigens teilweise wiederaufgebaut worden.

Wenige Minuten, bevor die Reisegruppe auf der ehemaligen Reichsstraße, die von Tilsit nach Königsberg führt, an der Kreuzung in Nautzken, Kreis Labiau unweit einer kleinen Bahnstation anlangt, von der eine Nebenstraße nach Caymen / Kaimen / Kaymen abgeht, trabt eine Kuh in eine an der Fernstraße gelegene Kirche hinein. Verblüfft schauen die Reisenden ihr nach.

Wenn man ein Ostpreuße der letzten Minute ist, in diesem versunkenen Land im September 1944 auf die Welt kam, kurz bevor der Einmarsch der Roten Armee das Leben der Nation und der Familie fundamental veränderte, gibt es im heutigen Ostpreußen nur wenig Haltepunkte. Es sind die Orte, an denen die Eltern ihre Kindheit und Jugend verbrachten. Ansonsten befindet man sich im Wortsinne auf der "Durchreise".

Nur in Caymen, das der Reisebus nun fast erreicht hat, gibt es noch einen wichtigen Platz. Als das Auto am Ende der Allee nach links um eine scharfe Kurve biegt und auf eine kleine Anhöhe zufährt, wird dem Betroffenen klar, warum dies so ist. Beim Passieren einer malerischen geduckten Kate - vermutlich handelt es sich um das alte Pfarrhaus - beschließt er blitzschnell, in den nächsten Minuten allein zu sein. Er weiß plötzlich, daß jetzt der schwerste Gang auf dieser Reise auf ihn zukommt. Bislang ist ihm die Tour emotional leicht gefallen. Nur beim Anflug auf den Flughafen von Königsberg, beim Überfliegen der Frischen und Kurischen Nehrung kämpfte er gegen seine Rührung an. Das war also Ostpreußen. Und aus der Luft, in der aus Warschau kommenden Turbopropmaschine der polnischen Luftfahrtgesellschaft LOT, sah es so schön aus, wie es in den Beschreibungen der Eltern angeklungen war. Aus der Vogelperspektive wirkte Ostpreußen an diesem heißen Sommertag des Jahres 2006 unzerstört, heil.

Als das Auto einige Augenblicke später an einem Kirchhof anhält, springt der Reisende hinaus und läuft los. Vor ihm liegt nun die Kirche, in welcher der mittlerweile 62jährige Ende Oktober 1944 getauft wurde, wenige Tage bevor Mutter und Großmutter mit ihm nach Westen aufbrachen und die Flucht irgendwann im Frühjahr 1945 nach Zwischenetappen in Pommern und Mecklenburg in einem dänischen Lager endete.

Vermutlich war dieser Sonntag, an dem der Junge getauft wurde und es beim Onkel, der die Flüchtlinge aufgenommen hatte, in der Posthalterei von Nautzken am Nachmittag eine kleinen Feier gab, der letzte gute Tag in einem Land, in dem man von Ferne schon seit Wochen den Donner der Kanonen hören konnte. Daß man Ostpreußen kurz darauf für immer verlassen müßte, sofern man dazu kam und nicht - wie es einer halben Millionen von Ostpreußen passierte - in die Hände der Russen fiel, lag außerhalb der Vorstellungskraft der allermeisten Menschen. Daß es soweit kommen würde, wußten die Menschen damals nicht. Aber wer im Oktober 1944 den Wehrmachtsbericht deuten und dechiffrieren konnte, mußte wissen, daß Ostpreußen nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 keine Chance mehr hatte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, und die Wochen zwischen dem Juli 1944 mit den ersten, schweren Luftangriffen auf Tilsit und auf Königsberg waren schon geliehene Zeit.

Das, was sich bei der Annäherung an Caymen bereits abzeichnete, wird nun zur Gewißheit. Die aus der Ferne intakt wirkende Kirche besteht in Wirklichkeit nur noch aus dem Stumpf des Kirchturms, in dessen Mitte sich ein kleiner Baum zur Dachöffnung empor windet. Das ist alles, was von der Kirche übrig geblieben ist. Mit etwas Phantasie ist es weniger eine Ruinen- als eine Märchenlandschaft. Der Reisende hat es nun eilig. Er registriert nur am Rande den chaotischen Zustand, den der Friedhof in Wirklichkeit hat und drängt zur Rückfahrt. Denn bis nach Rauschen, dem Standquartier der Gruppe, die aus drei Generationen besteht und zu der auch die Tante aus Amerika gehört, die als 21jährige Ostpreußen verließ, ist es noch weit. Ruhe kehrt in ihm ein. Nie war er in den letzten Jahren gedanklich und emotional so nahe an seinen Eltern wie in den zurückliegenden Minuten. Als das Auto die Kreuzung von Nautzken erreicht, ist er erleichtert. Er blickt nicht zum Kirchturm von Caymen zurück.

Auf dem Friedhof von Caymen, den russische Grabkreuze zieren, sind Reste von deutschen Gräbern nicht zu entdecken. Hilflos stehen sich Russen und Deutsche bei der Spurensuche gegenüber. Wer gegen Kriegsende geboren wurde, weiß, daß das Schicksal des anderen im Grunde genommen das gleiche ist: als Bestandteil einer einzigen großen Vertreibung, die das Zentrum und den Osten Europas erfasste und die Dimensionen einer Völkerwanderung hatte, die in ihren Konturen und Formen jetzt allmählich erkaltet.

einer halben Millionen von Ostpreußen passierte - in die Hände der Russen fiel, lag außerhalb der Vorstellungskraft der allermeisten Menschen. Daß es soweit kommen würde, wußten die Menschen damals nicht. Aber wer im Oktober 1944 den Wehrmachtsbericht deuten und dechiffrieren konnte, mußte wissen, daß Ostpreußen nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Sommer 1944 keine Chance mehr hatte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, und die Wochen zwischen dem Juli 1944 mit den ersten, schweren Luftangriffen auf Tilsit und auf Königsberg waren schon geliehene Zeit.

Das, was sich bei der Annäherung an Caymen bereits abzeichnete, wird nun zur Gewißheit. Die aus der Ferne intakt wirkende Kirche besteht in Wirklichkeit nur noch aus dem Stumpf des Kirchturms, in dessen Mitte sich ein kleiner Baum zur Dachöffnung empor windet. Das ist alles, was von der Kirche übrig geblieben ist. Mit etwas Phantasie ist es weniger eine Ruinen- als eine Märchenlandschaft. Der Reisende hat es nun eilig. Er registriert nur am Rande den chaotischen Zustand, den der Friedhof in Wirklichkeit hat und drängt zur Rückfahrt. Denn bis nach Rauschen, dem Quartier der Gruppe, die aus drei Generationen besteht und zu der auch die Tante aus Amerika gehört, die als 21jährige Ostpreußen verließ, ist es noch weit. Ruhe kehrt in ihm ein. Nie war er in den letzten Jahren gedanklich und emotional so nahe an seinen Eltern wie in den zurückliegenden Minuten. Als das Auto die Kreuzung von Nautzken erreicht, ist er erleichtert. Er blickt nicht zum Kirchturm von Caymen zurück. J. T.

Dr. Jochen Thies ist am 18. September 1944 in Rauschen, Kreis Samland zur Welt gekommen. In Kiel, Freiburg und Köln studierte er Geschichte, Politische Wissenschaft und Romanistik. Zur Zeit arbeitet er als Sonderkorrespondent und Mitglied der Chefredaktion für DeutschlandRadio Kultur. Der Historiker und Journalist ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu geschichtlichen Themen und zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, darunter der Bücher "Die Dohnanyis - Eine Familienbiografie" und "Helmut Schmidts Rückzug von der Macht - Das Ende der Ära Schmidt aus nächster Nähe".

Ein Nebengebäude der Posthalterei von Nautzken, in der Jochen Thies im September / Oktober 1944 einige Wochen mit seiner Mutter verbrachte: Von der Kreuzung geht die Straße ab, die nach dem etwa zwei Kilometer entfernten Caymen führt. Foto: Thies


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