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10.03.07 / Zeichen der Zeit verschlafen / Die Pflegeversicherung bricht auseinander, doch die Politik handelt immer noch nicht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 10-07 vom 10. März 2007

Zeichen der Zeit verschlafen
Die Pflegeversicherung bricht auseinander, doch die Politik handelt immer noch nicht
von H.-J. Mahlitz

Da fallen selbst Norbert Blüm, dem wenn schon nicht größten, so doch bedeutendsten Polit-Clown der jüngeren Geschichte, keine Steigerungen mehr ein. Wenn er von "seiner" Pflegeversicherung schwärmt, muß es schon nach "Jahrhundertwerk" klingen, nach einmaliger "Erfolgsstory" und nach "dem Modell für die Zukunft" schlechthin.

Die von Blüms Segnungen direkt Betroffenen meinen eher, dann sei die Zukunft wohl auch nicht mehr, was sie mal war. Sie empfinden das Bewilligungsverfahren für die einzelnen Pflegestufen als ungerecht und entwürdigend, die Leistungen als völlig ungenügend und - soweit sie über den Tellerrand des eigenen Schicksals blicken - das System insgesamt als ungeeignet, die dramatisch zunehmenden Lasten der demographischen Entwicklung zu schultern.

Was diese Umschichtung der Bevölkerungsstrukturen konkret bedeutet, begann unseren Politikern Anfang der 90er Jahre zu dämmern, also viel zu spät. Endlich näherten sich Blüm und Genossen der Erkenntnis, daß sinkende Geburtenzahlen nicht nur "glücklich selbstverwirklichte Weiblichkeit" und steigende Lebenserwartung nicht nur kraftstrotzende, den Segen "sicherer" Renten genießende Senioren bedeuten. Wovor weitsichtige konservative Kritiker schon lange gewarnt hatten (übrigens auch in dieser Zeitung), wurde nun auch für Politiker unübersehbar: Die Zahl kranker und pflegebedürftiger alter Menschen steigt in demselben rasanten Tempo an, wie die Zahl der Jüngeren, von denen die immensen Kosten für Pflege und Gesundheit erarbeitet werden müßten, abstürzt.

Ein Verdienst kann man Norbert Blüm nicht absprechen: Unter seiner Federführung hat sich die Politik erstmals überhaupt zum Handeln aufgerafft. Auch war die Idee, die häusliche Pflege massiv zu fördern, im Ansatz durchaus richtig. Aber: "Gut gemeint" ist eben nicht immer "gut gemacht" - zwölf Jahre nach ihrer Einführung als "fünfte Säule der Sozialversicherung" steht die Pflegeversicherung vor dem Kollaps.

Der Beitragssatz betrug anfangs ein Prozent, ab Juli 1996 (erst da wurden auch die vollen Leistungen erbracht) 1,7 Prozent des Bruttoeinkommens, zahlbar je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Letztere wurden durch die Abschaffung des Buß- und Bettags als arbeitsfreier Feiertag entlastet (außer in Sachsen, wo den Arbeitnehmern mit 1,35 Prozent ein deutlich höherer Eigenanteil aufgebürdet wurde).

Blüm setzte auf dieses Umlageverfahren, weil es sich im Gegensatz zu kapitalgedeckten Modellen schnell - man könnte auch sagen: rechtzeitig vor den nächsten Wahlterminen - umsetzen ließ. Die drohenden Gefahren, vor denen Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen, Wirtschaftsverbände, soziale Organisationen, Gewerkschaften und Kirchen unisono warnten, wollte Kohls gnadenloser Spaßmacher nicht gelten lassen.

Zehn Jahre nach der Einführung (neuere statistische Angaben liegen noch nicht vor) nehmen bereits über zwei Millionen Menschen Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch, davon zwei Drittel in häuslichem Umfeld, also der Familie. Allein diese Leistungen summieren sich auf über acht Milliarden Euro. Insgesamt gab die Pflegeversicherung im Jahr 2005 nahezu 18 Milliarden aus; die Beitragseinnahmen lagen unter 17,5 Milliarden. Die Defizitphase hält übrigens bereits seit 1999 an - ein Ende ist nicht abzusehen, im Gegenteil.

Fatalerweise kann dieses Defizit (siehe Schuldenuhr unten links) ohnehin nur durch rigorose Leistungsverweigerung noch auf vergleichsweise erträglichem Niveau gehalten werden - was sind schon ein paar hundert Millionen Minus gegenüber unserem 1,5-Billionen-Gesamtschuldenberg!

Leistungsverweigerung - das bezieht sich zunächst einmal auf die Höhe der Leistungen (siehe Kasten auf dieser Seite), die der anhaltenden Geldentwertung (zum Beispiel durch die Einführung des Euro oder die Anhebung der Mehrwertsteuer) nicht ein einziges Mal angepaßt wurde. Vor allem aber bezieht es sich auf die extrem hohen Hürden, mit denen die Pflegeversicherung sich vor allzu vielen Leistungsempfängern zu schützen trachtet.

Wenn sogar Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes, der Neuanträge begutachtet, unverhohlen und keineswegs scherzhaft verkünden, ohne "Kopf unterm Arm" habe man kaum eine Chance auf Anerkennung, sagt das über den sozialpolitisch-moralischen Anspruch dieser Institution mehr aus als die geschwollenen Lobhudeleien ihres Schöpfers. Und die beschämend niedrigen Almosen, mit denen Angehörige abgespeist werden, die ihre Alten aufopferungsvoll pflegen, tragen gewiß nicht dazu bei, Familiensinn zu stärken. Ohne eine Renaissance der Familie aber wird die Pflegeversicherung genauso zusammenbrechen wie alle anderen Komponenten unseres Sozialsystems.

 

Pflegestufen: Eine Minute fürs Zähneputzen

Bei häuslicher Pflege - in aller Regel durch Angehörige - gibt es Geld- oder Sachleistungen, gegliedert in drei Pflegestufen. In Stufe I (erheblich pflegebedürftig) liegt die untere Grenze bei 90 Minuten Zeitaufwand (45 Grundpflege, 45 häusliche Versorgung). Dafür wird ein monatliches Pflegegeld von 205 Euro gewährt. In Stufe II (schwerpflegebedürftig) muß der tägliche Zeitaufwand schon über drei Stunden (davon zwei für die Grundpflege) liegen; dafür gibt es 410 Euro im Monat. Für Stufe III (schwerstpflegebedürftig) werden täglich mindestens fünf Stunden (vier Stunden Grundpflege) vorausgesetzt, bei einem Pflegegeld von 665 Euro. Ein Beispiel für die Maßstäbe, nach denen der MDK (Medizinischer Dienst der Krankenkassen) Pflegegeld-Anträge begutachtet: Für Hilfe beim Zähneputzen wird eine Minute täglich anerkannt. Dieselben Krankenkassen übrigens empfehlen Schulkindern, mindestens zweimal am Tag mindestens fünf Minuten lang ihre Zähne zu putzen. H. J. M.

Foto: Wunschvorstellung: Zeit für individuelle Bedürfnisse


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