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24.03.07 / Adoptierter Opa / Manchmal sehen nur Kinder den wahren Kern eines Menschen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-07 vom 24. März 2007

Adoptierter Opa
Manchmal sehen nur Kinder den wahren Kern eines Menschen
von Gabriele Lins

Wenn Hella nachmittags vom Klavierunterricht kam, ging sie immer an dem Springbrunnen vorbei, der am Rande der Promenade sein silbernes Wasser in hohem Bogen versprühte. Dort saß er jeden Tag auf der gleichen Bank, ein alter Mann mit weißem Haar, das sich wie gezupfte Watte um seine faltige Stirne bauschte. Er hielt sich aufrecht, hatte die Hände gefaltet und ließ seine Blicke auf dem quirligen Wasser des Brunnens ruhen.

Hella fühlte sich von ihm angezogen, denn trotz seines heruntergekommenen Aussehens strahlte er etwas aus, das sie nicht benennen konnte. Irgendwann setzte sie sich neben ihn. Er rückte bereitwillig zur Seite und lächelte sie an. Sie schenkte ihm ihr übrig gebliebenes Frühstücksobst und er nahm es dankbar entgegen. Während er die noch weißen Zähne in das saftige Apfelfleisch grub, unterhielten sie sich eine Weile. Hella fand, daß er ziemlich viel wußte.

Abends im Bett machte sie sich Gedanken um ihn. Warum er wohl so heruntergekommen war? Bisher hatte sie sich nicht getraut, ihn zu fragen. Über seinen interessanten Erzählungen merkte sie oft gar nicht, wie schnell die Zeit vorüberging, so daß sie meist nach einer Stunde erschrocken aufsprang, um eilends nach Hause zu laufen.

Aber seit einigen Tagen schien sich der alte Mann nicht gut zu fühlen. Seine Hände zitterten leicht, und er seufzte öfter mal vor sich hin. Hella entschloß sich, ihm zu helfen. Er soll mein Großvater sein, dachte sie und mußte lachen, ich adoptiere ihn einfach, schließlich hatte ich ja nie einen richtigen Opa.

Da war die gut gefüllte Spardose in Gestalt eines Marienkäfers! Ihr intensives Rot stach Hella jetzt täglich auffordernd in die Augen. Ihre Großmutter und ein Onkel, beide gut betucht, steck-ten hin und wieder mal einen Schein durch den Spalt der Büchse. Hella hatte sich eigentlich ein paar schicke Markenklamotten für das Geld zusammen sparen wollen, vor allem wünschte sie sich ein neues Fahrrad, aber ihre Eltern hatten für einen solchen Luxus kein Geld, wie sie immer wieder achselzuckend sagten. Doch nun überlegte Hella nicht lange.

Der alte Kalli war krank. Sie beobachtete ihn genau, er hatte Schmerzen, die er vor ihr verbergen wollte. Als sie ihn daraufhin ansprach, schüttelte er den Kopf. "Nein, auf keinen Fall zum Doktor! Guck mich doch an, soll ich sooo zum Arzt? Ach so, zuerst in die Kleiderstube! Nee, nee, ich bettele nicht so gerne!" Und aus den Kleidersäcken am Straßenrand wollte er sich auch nicht bedienen.

Hella brauchte viel Überredungskunst, bis sie Kalli so weit hatte, daß er ein paar Geldscheine aus ihrer Spardose von ihr annahm. "Treffpunkt morgen wieder an dieser Bank!" befahl sie.

Am anderen Tag sah sie wieder nach ihm, und fast hätte sie ihn nicht erkannt. Kalli hatte irgendwo geduscht und war beim Friseur gewesen. Und er hatte eingekauft. Der graue Anzug mit der passenden Krawatte stand ihm vorzüglich. Er sieht wie ein feiner alter Herr aus, dachte Hella und war stolz auf sich selbst, und ein solcher ist er ja eigentlich auch. Woher weißt du das?, fragte eine innere Stimme. Sie zuckte die Achseln. Manches weiß man einfach.

Und nun traute er sich endlich zum Arzt, das hatte sie ja mit der ganzen Aktion bezweckt.

Am nächsten Mittag lief sie nach der Schule so schnell sie konnte zum Springbrunnen, wo der alte Mann wieder auf seiner Bank saß und auf sie wartete. Mit fröhlicher Stimme erzählte er, seine Krankheit sei in den Griff zu kriegen. Der Arzt habe gemeint, er wäre früh genug gekommen. Er fing ganz plötzlich an zu schluchzen, nur ganz kurz, als ginge ein Gewitterschauer nieder, der ebenso rasch, wie er gekommen war, wieder aufhörte, und da wußte Hella: Alles war gut, Kalli hatte vor Glück geweint.

Ganze zwei Wochen lang ging Hella an seiner Bank vorbei, doch jedes Mal saßen da andere Leute, und das Herz tat ihr weh. Wo war er nur?

"Ich glaube ganz fest, daß Kalli eines Tages zurückkommt", schrieb sie in ihr Tagebuch, "er muß mir ja noch sagen, daß er wieder gesund ist. Aber vielleicht baut er gerade an seinem neuen Leben und hat deshalb keine Zeit für mich."

Der Gedanke, daß er vielleicht in einer Klinik liegen und seinem Tod entgegensehen könnte, kam ihr nicht. Erst viel später fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, und nun wußte sie genau, warum er geweint hatte.


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