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14.04.07 / Flucht aus dem Problemkiez / Immer mehr Ärzte zieht es in Stadtteile mit hohem Privatpatientenanteil

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-07 vom 14. April 2007

Flucht aus dem Problemkiez
Immer mehr Ärzte zieht es in Stadtteile mit hohem Privatpatientenanteil
von Peter Westphal

Bislang sah es so aus, als leide nur das Land Brandenburg unter einem akuten Mangel an Hausärzten. Dort kommen auf 10000 Einwohner durchschnittlich 12,1 Mediziner. Das ist bundesweit die geringste Quote und bedenklich vor allem deshalb, da es vor allem in Randgebieten zu besorgniserregenden Engpässen kommt. Nach einer aktuellen Studie, dem aktuellen Ärzteatlas der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin, erreicht dieses Schreckensszenario allmählich auch den Kiez in Berlin. So sind in der Zeit vom 1. Juni 2003 bis 31. Mai 2006 in Berlin 2711 ambulante Ärzte umgezogen, allein 456 haben ihre Praxis in einen anderen Bezirk verlegt, Tendenz steigend. Möglich wurde dies durch eine Änderung der Kassenärztlichen Vereinigung im Jahr 2003, derzufolge der Ärztebedarf nicht mehr bezirklich, sondern stadtweit ermittelt wird. Obgleich Berlin mit 8338 ambulanten Ärzten und Psychotherapeuten noch immer - nach Bremen - die zweithöchste Ärztedichte in Deutschland verzeichnet (18,8 niedergelassene Ärzte auf 10000 Einwohner), sind durch die seither erfolgten Praxisverlagerungen sogenannte "Verlierer-Bezirke" entstanden. Zu ihnen zählt an erster Stelle der Problemkiez von Neukölln (minus 34 Ärzte), gefolgt von Lichtenberg (minus 25 Ärzte), Marzahn-Hellersdorf (minus 16), Treptow-Köpenick (minus 15) sowie Spandau, Friedrichshain-Kreuzberg und Pankow, die jeweils zehn bis elf Arztpraxen verloren haben.

Deutliche Worte findet der Mediziner Dr. Charles Woyth aus dem Bezirk Wittenau. Für ihn ist die Flucht der Arztpraxen, die in Bezirke mit mehr Privatpatienten ziehen, die Konsequenz einer verfehlten Gesundheitspolitik.

Aus existentiellen Gründen müßten Kassenärzte ihre Praxis in Bezirke mit einem hohen Anteil von Privatpatienten verlegen, um durch die damit verbundenen zusätzlichen Einnahmen überhaupt wirtschaftlich bestehen zu können. De facto bedeute dies den Zusammenbruch der kassenärztlichen Versorgung. Er kritisiert die Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), als "sozialistisch-zentralistische Strukturen", die dazu beitragen, die kieznahe Versorgung zu gefährden und den "selbständigen" Beruf des Hausarztes zu zerstören.

MVZ sind Ärztehäuser. Ihre Gründung ist seit 2004 möglich und von Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt "explizit gewollt", wie die Vorsitzende der KV Berlin, die Allgemeinmedizinerin Angelika Prehn, in einem Zeitungsgespräch kritisch anmerkt. In Berlin würden diese "wie Pilze aus dem Boden" sprießen, inzwischen gebe es hier mehr als 70 MVZ, bilanziert die KV-Chefin. Durch die damit einhergehende Auflösung ehemaliger Praxen im Kiez sieht sie die wohnortnahe Versorgung gefährdet. Bezirke wie Neukölln "bluten" dadurch "medizinisch aus". Da die Zentralisierung "politisch gewollt" sei und Ärzte ihren Standort frei wählen können, sei es kaum möglich, etwas dagegen zu unternehmen.

Christian Geißler, ein als Hausarzt niedergelassener Allgemeinmediziner in Neukölln, klagt über die massive Bürokratisierung des "schon lange nicht mehr freien Arztberufes". Der Arbeitsaufwand für Patienten habe sich um fast ein Drittel erhöht, ohne daß dafür ein finanzieller Ausgleich geschaffen worden wäre. Schuld sei in zunehmendem Maße aber eben auch die Zentralisierung von Medizinern in MVZ, die - zumindest aus Kritikersicht - in der Tradition des sozialistischen "Poliklinik"-Modells stehen. Besonders Politiker der PDS machten sich hierfür stark.

Nutznießer der Fluktuation ist der gutbürgerliche Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Er verzeichnete im vergangenen Dreijahreszeitraum einen Zuzug von 73 Medizinern. Dadurch gibt es dort heute insgesamt 296 Hausärzte mit eigener Praxis. In Neukölln dagegen sind es nur 198.

Insgesamt zählt Berlin 2448 Hausärzte. Zu denen, die ihre Praxis nach Charlottenburg-Wilmersdorf verlagert haben, zählt auch der Lungenarzt Karel Günsberg, der zuvor 19 Jahre im Wedding praktiziert hatte. Auch bei ihm übte das Mehr an Privatpatienten einen nicht unerheblichen Einfluß darauf aus, den Wedding zu verlassen. Er hat das Glück, das etwa 70 Prozent seiner bisherigen Patienten auch in die neue Praxis kommen.

Andere haben dies Glück nicht. Der am Kottbusser Damm in Neukölln niedergelassene Allgemeinarzt Klemens Senger zum Beispiel; er hat sich inzwischen auf seine veränderte Patientenklientel eingestellt, etwa arabische Familien, in denen es Mord und Totschlag gibt, oder türkische Großfamilien, wo der Vater im Gefängnis sitzt. Um sie versorgen zu können, hat er Arzthelferinnen eingestellt, die Arabisch, Türkisch und Russisch sprechen. Da er - aus Sicht der Moslems - verschleierte Frauen nicht behandeln darf, werden diese von seiner Frau versorgt.

Foto: Medizinisches Versorgungszentrum: Ärztehäuser sind vom Gesundheitsministerium gewollt. Allerdings entstehen sie selten dort, wo nur Kassenpatienten leben.


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