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12.05.07 / Achterbahnfahrt der Gefühle / Ein Afghane hat nach 30 Jahren zum ersten Mal wieder seine Heimatstadt Kabul besucht / Teil I

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 19-07 vom 12. Mai 2007

Achterbahnfahrt der Gefühle
Ein Afghane hat nach 30 Jahren zum ersten Mal wieder seine Heimatstadt Kabul besucht / Teil I

Geplant war ein befristeter Aufenthalt. Maximal vier Jahre Deutschland sollten es sein, um ein Studium der Betriebswirtschaft an der Hamburger Universität zu absolvieren und anschließend in das väterliche Im- und Exportgeschäft in Kabul einzusteigen. Ein jährlicher Besuch in der Heimat war Bedingung des jungen Mannes, der seine Familie nur ungern verließ. Als sich Ende der 70er Jahre die politischen Verhältnisse in Afghanistan jäh änderten, ein Putsch nach dem anderen die Situation immer brisanter werden ließ und schließlich im April 1978 die Kommunisten die Herrschaft übernahmen, waren die Pläne des jungen Afghanen zunichte gemacht worden.

Er mußte in Hamburg bleiben, sich in der zunächst fremden Welt einrichten und selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen. Der Vater konnte ihn nicht mehr unterstützen, da die Konten eingefroren worden waren. Nur hin und wieder gelangte ein Brief von Kabul nach Hamburg oder in umgekehrter Richtung. Telefonieren war ohnehin schwierig. So erfuhr der junge Afghane auch erst sehr spät vom Tod seiner Eltern. Die Mutter hat er nicht mehr wiedergesehen; sie starb 1982. Der Vater war im November 1979 noch einmal nach Hamburg gekommen, um zu sehen, ob es seinem Sohn in dem Land gut ging, zu dem er einmal geschäftliche Beziehungen unterhalten hatte. Er starb 1980.

In der Zwischenzeit waren die Russen in das Land am Hindukusch eingedrungen. Als ihre Truppen am 23. Dezember 1979 über die Grenze marschierten, hielt die Welt den Atem an. Zumindest der westliche Teil zog Konsequenzen und boykottierte zum Beispiel die Olympischen Spiele in der UdSSR, woraufhin die Russen ihrerseits vier Jahre später keine Sportler zu den Spielen nach Los Angeles entsandten.

Den Kommunisten folgten von 1992 bis 1996 die Mudschaheddin, die Freiheitskämpfer, dann die Taliban, die sogenannten Koran-Schüler mit ihrer Schreckensherrschaft.

Ein Bürgerkrieg von bisher kaum gekannten Ausmaßen nahm seinen Anfang. In diese Zeit fiel auch die Auseinandersetzung der Taliban mit der Nordallianz der Mudschaheddin um Rabbani.

Als die radikal-islamischen Taliban 2001 von den Amerikanern und ihren Alliierten vertrieben wurden und eine demokratische Regierung unter Hamid Karsai das Heft in die Hand nahm, kehrte auch die Hoffnung zu den Exil-Afghanen zurück. Bald schon machte sich der eine oder andere Landsmann auf die Reise in die fremd gewordene Heimat. Es sollte aber noch vier Jahre dauern, bis auch Bashir (Name von der Redaktion geändert) sich endlich entschloß, nach drei Jahrzehnten seine Stadt Kabul wiederzusehen - und seine Familie, zu der er seit Ende der Taliban-Zeit nur per Telefon in Kontakt war. Wir veröffentlichen Auszüge aus einem Tagebuch über eine ungewöhnliche Reise.

1. Tag

Die Boeing 727 aus Dubai nähert sich Kabul. Es war eine aufregende Reise bis hierher. Erst der Flug von Hamburg nach Dubai, dann die Zitterpartie, ob das von der Familie in Kabul besorgte Ticket tatsächlich am Schalter der Ariana Air hinterlegt worden war. Und dann die Warterei im Transitbereich, stundenlang. Überall warteten Menschen (meistens Inder und Pakistani) auf den Weiterflug, blockierten nicht nur die Sitzplätze, sondern lagen auch in den Gängen, um ein bißchen Ruhe zu finden. Ich wanderte unruhig hin und her, doch dann ging's endlich los.

Die Maschine ist überbucht, die Menschen sitzen sogar in den Gängen, afghanische Gastarbeiter auf dem Heimflug. Egal, "gleich", nach immerhin mehr als acht Stunden Flugzeit von Hamburg, kann ich Kabul sehen. Da ... am liebsten würde ich losheulen. 30 Jahre. Es ist ein bewegender Moment, ein unbeschreibliches Gefühl, nach so langer Heimatlosigkeit wieder dahin zu kommen, wo meine Wurzeln sind. Mir fällt da ein Spruch ein, den ich vor kurzem erst gelesen habe: Man kann einen Menschen aus seiner Heimat vertreiben, aber nicht die Heimat aus dem Herzen des Menschen.

Im Flughafen Kabul, der militärisch und zivil genutzt wird, herrscht das absolute Chaos. Überall sehr strenge Kontrollen und daher lange Menschenschlangen. Wenn mein Schwager mich nicht abgeholt hätte, wäre ich sicher verschüttgegangen. So aber läuft alles ohne Probleme. Wir fahren mit einem in der Familie ausgeliehenen Wagen vom Flughafen nach Hause - oder besser zum Haus meiner Schwester.

Auch draußen der totale Wahnsinn, Staub hüllt alles ein, und Abgase verpesten die Luft. Jeder fährt so, wie es ihm in den Sinn kommt. Vielleicht liegt es aber auch daran, daß die meisten Autos aus Pakistan oder Indien stammen und Rechtssteuerung haben. In Afghanistan aber ist im Gegensatz zu seinen Nachbarländern Rechtsverkehr.

Ich habe Angst um die vielen Bettler, die den Straßenrand säumen. Manche sind so wagemutig - oder verzweifelt? - und begeben sich in gefährliche Nähe zum Verkehr.

Obwohl ich die Straße kennen müßte, sie führt schließlich vom Flughafen nach Hause, erkenne ich nichts wieder, ich suche nach winzigen Anhaltspunkten. Ich bin wie betäubt, als wir endlich das Haus erreichen, das in einer relativ ruhigen Nebenstraße liegt.

Als ich meine Schwester sehe, steigen mir wieder Tränen in die Augen. Ich habe ein junges Mädchen von 17 Jahren verlassen, heute steht vor mir eine stattliche erwachsene Frau. Neben ihr ein junges schlankes Mädchen, das verschämt lächelt und mich ein wenig unsicher und schüchtern begrüßt. Meine Nichte ... Ich muß mich erst an den Gedanken gewöhnen, daß das kleine Mädchen mit den rabenschwarzen Augen, das ich bisher nur vom Foto her kannte, erwachsen geworden ist. Mein Gott, 30 Jahre sind eine kleine Ewigkeit ...

2. Tag

Heute ist eine kleine Stadtrundfahrt angesagt. Ein Verwandter kommt mit seinem Auto, einem gebrauchten Japaner, und fährt mit mir durch die nähere Umgebung. Überall Trümmer, aber auch neue Häuser. Darunter solche, die an Disneyland erinnern. Meterhohe Säulen schmücken das Portal, zu dem eine große Treppe führt. Die Fenster sind alle aus einem von außen undurchsichtigen Glas. Da sollen die neuen Reichen von Kabul wohnen, doch sehen kann man sie nicht. Woher die ihr Geld haben? Da kann man nur spekulieren, vielleicht von dem Verkauf von Drogen, vielleicht aus dem Waffenhandel, vielleicht ist es aber auch ehrlich verdient. Die Kabulis selbst wissen es nicht, es gibt nur Gerüchte.

Wo früher kleine Einzelhäuser standen, werden jetzt hochmoderne Wohnhäuser hochgezogen, sechs Stockwerke. Die Wohnungen dort sind teuer, ab 220 Euro. Wer kann sich das leisten in Kabul?

Auf dieser kurzen Tour fallen mir wieder die Autos auf. Vornehmlich sind es Gebrauchtwagen, die in Deutschland sofort in der Schrottpresse landen würden. So manches hat vielleicht bei einem Händler in Hamburg gestanden oder am Kai im Freihafen, um in die Dritte Welt verschifft zu werden, weil man in Deutschland nichts mehr damit anfangen konnte. Hier aber ist man stolz, einen solchen Wagen zu besitzen, schließlich kostet ein Gebrauchter umgerechnet zwischen 3700 und 4450 Euro. Ein Neuwagen (meist aus Korea) etwa 6670 Euro. Und das bei einem Monatsverdienst von 1500 (Arbeiter) bis 3500 (Angestellter) Afghani, das sind zwischen 23 und 53 Euro. Benzin ist nicht gerade billig, so kostet ein Liter Super 32 Afghani, das sind etwa 50 Euro Cent, 1 Liter Diesel 30 Afghani.

Wer das nicht hat, nimmt den Bus (zwei bis 10 Afghani) oder das Taxi. Die sind vergleichsweise günstig. Man bezahlt für eine Strecke von einem bis fünf Kilometer 50 Afghani, das ist nicht ganz ein Euro (1 Euro = 65 Afghani), über fünf Kilometer kostet es 100 Afghani und mehr, da muß man verhandeln.

Viele arme Menschen gehen einfach zu Fuß, doch die Straßen sind in einem katastrophalen Zustand. Große Bombentrichter versperren oft den Weg, der Asphalt ist ohnehin längst kaputt. Bei Regen sammelt sich dort das Wasser und verwandelt die Straßen in eine reine Schlammwüste. Die Kabulis sind sauer. Warum repariert man hier in der Hauptstadt die Straßen nicht, fragen sie. In der Provinz sieht es ganz anders aus, da läuft es wie geschmiert. Die Fernstraßen sind meist in Ordnung, vor allem in Richtung Pakistan, um die Versorgung aufrechtzuerhalten. Die Menschen fragen sich auch, wo das Geld der Geberstaaten bleibt. Schließlich habe man in London doch beschlossen, zum Aufbau des Landes beizutragen.

Wir kommen an der Universität vorbei. Hier ist viel los. Die Studenten gehen gerade zu ihren Vorlesungen. Die jungen Frauen tragen zwar keinen Tschadori (Schleier) mehr, sind aber unauffällig gekleidet. In der Stadt tragen die meisten Frauen den Tschadori, so fühlen sie sich sicherer. Auf jeden Fall aber ein Kopftuch und dezente Kleidung. Die Schülerinnen tragen übrigens eine Art Uniform, schwarzes Kleid mit schwarzer langer Hose und Kopftuch. Meine Nichte erzählte, daß sie Schwierigkeiten bekommen hatte, als sie einmal ein Kopftuch mit Fransen getragen hatte. Die mußten weg ... Im Jahr absolvieren etwa 20000 Studenten die Universität, doch nur maximal 5000 finden einen Job.

Wird fortgesetzt

 

Foto: Kabul heute: Bei einer Fahrt mit einem nicht ganz europäischen Sicherheitsstandards entsprechenden Auto durch die zum Teil schon wieder aufgebaute Stadt begegnet man geschäftigem Treiben. 


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