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26.05.07 / Mit einem Blick nach Westen / Im Königsberger Gebiet hat sich ein ganz eigenständiger Menschenschlag voller Gegensätze entwickelt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 21-07 vom 26. Mai 2007

Mit einem Blick nach Westen
Im Königsberger Gebiet hat sich ein ganz eigenständiger Menschenschlag voller Gegensätze entwickelt
von Jochen Thies

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, in einem Land herumzureisen, das trotz immenser Zerstörungen den Charakter einer deutschen Kulturlandschaft bewahrt hat, und dabei nicht auf Deutsche zu treffen. Im Sonderverwaltungsbezirk Königsberg leben heute etwa eine Million Menschen. Sie stammen aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion und sind hier in der zweiten und dritten Generation ansässig. Ihre Eltern und Großeltern kamen Ende der 50er Jahre, oft mit Versprechungen angelockt, die mit der Realität nichts zu tun hatten. Aber sie blieben. Kenner der Verhältnisse sagen, daß sich in Königsberg ein eigenständiger russischer Menschenschlag entwickelt habe, mit einem Blick nach Westen ausgestattet. Dazu tragen sicherlich die vielen sogenannten Heimweh- und anderen Touristen aus dem Westen bei, die seit den frühen 90er Jahren in das bis dahin hermetisch abgeriegelte Gebiet reisen. Aber es findet anscheinend auch eine Umschichtung innerhalb der Bevölkerung des Sonderverwaltungsgebietes Königsberg statt. Der Anteil der Militärs geht zurück, liegt allerdings, Familienangehörige mitgerechnet, angeblich immerhin noch bei etwa drei Viertel der Bevölkerung. Aber es kommen neue Menschen in die Industrie- und Hafenstadt, die bei einem anderen Verlauf der Geschichte heute das Nizza von Deutschland wäre.

Diejenigen, die Kontakt mit Besuchern aus dem Westen haben, die Fremdsprachen sprechen, sind Menschen, mit denen man rasch und intensiv ins Gespräch kommt. Dabei ist rasch herauszuhören, daß die liberale Phase mit weitgehender Pressefreiheit in Königsberg schon vorbei sei, daß sich die Zensur wieder breitmache und die Menschen vorsichtiger bei öffentlichen Äußerungen würden. Der mit einer russischen Kollegin verabredete Hörfunkbeitrag zur politischen Situation und zu den Perspektiven von Königsberg kommt später nicht zustande.

Zumindest in der warmen Jahreszeit ist das Straßenbild in Cranz und in Rauschen von Mädchen und jungen Frauen geprägt, die mit dem verarbeiteten, verhärmten Typus der Mütter- und Großmüttergeneration nichts mehr gemein haben. Im Gegenteil, die jungen Frauen kleiden sich mit großer Eleganz. Nicht immer sind es teure Designerstücke und Accessoires aus Edelboutiquen in Düsseldorf oder in Paris, sondern Imitate aus der Türkei. Aber die Eleganz und Leichtigkeit dieser jungen Menschen ist auffällig, ein neuer Frauentyp, selbstbewußt, kraftvoll und anmutig. Anscheinend strömen sie aus allen Teilen der Russischen Föderation herbei, wie auch die Schriftzüge der Charterflugzeuge auf dem Königsberger Flughafen vermuten lassen. Sie kommen in einer Umbruchsphase des großen Staates, in der es wenige Gewißheiten gibt, nur rare Chancen. Sie wollen nicht auf den generellen Aufschwung warten. Denn der kann nach russischen Erfahrungen lange auf sich warten lassen, auch scheitern. Die Mädchen suchen ihr Glück, jetzt. Ihre hellen Stimmen schwirren durch die Nacht von Rauschen. Die breite Hauptstraße, zu der parallel die Trasse der Samlandbahn verläuft, ähnelt um Mitternacht einem italienischen Corso. Aber auch ältere Semester schwingen zu den Klängen einer Live-Band das Tanzbein an der nächsten Straßenecke unweit des Wahrzeichens von Rauschen, dem Wasserturm.

Der Optimismus der Frauen wird von den russischen Männern anscheinend nicht geteilt. Man sieht im Vergleich nur wenige bei der Arbeit, auch nicht im Tourismussektor oder in der Gastronomie. Viele trinken und fangen schon früh damit an, so ist zu hören und auch zu beobachten, offenbar auch wegen allgemeiner Perspektivlosigkeit. Unter solchen Umständen sinke die Lebenserwartung beängstigend. Der Tod mit 40 Jahren sei nicht ungewöhnlich.

Das ruhige, insgesamt positive Bild über die russische Bevölkerung im nördlichen Ostpreußen, das sich binnen weniger Tage herausgebildet hat, zerreißt am Ende bei einem unerwartet auftretenden Stau auf der Überlandstraße am Stadtrand von Königsberg. Als eine Frau am Steuer einer Limousine deutschen Fabrikates an einer engen Stelle zögert, anzufahren, verläßt abrupt ein schwarzer, schwerer Geländewagen auf der Gegenfahrbahn seine Spur und steht plötzlich Schnauze an Schnauze dem Fahrzeug der zögernden Frau gegenüber. Es kommt zu einem Wortwechsel, der keine unmittelbare Konsequenz hat. Die Folge: Mehr und mehr Autos verlassen auf dieser zweispurigen Straße die Richtungsfahrbahn und stellen sich hinter dem Geländewagen auf, an dessen Steuer ein junger, aggressiv wirkender Typ sitzt. Erst als nach quälenden Minuten ein anderer Fahrer einen Vermittlungsversuch unternimmt, kommt Bewegung in die Sache. Aber deutlich ist, daß sich diese Gesellschaft in einer Minute in eine darwinistische Meute verwandeln kann, in der Gesetze nicht gelten, sondern sich der Stärkere behauptet. Nirgendwo auf der Welt, nicht im ärmsten Entwicklungsland, hat man derartiges gesehen.

Auf derselben Linie liegen die letzten Bilder vom Land, bevor man ins Flugzeug nach Warschau wieder einsteigt. Zunächst verkündet die hübsche russische Bodenstewardeß, indem sie eine spanische Wand im Flughafengebäude ein wenig beiseite rückt, den unmittelbar bevorstehenden Aufbruch. Die Reisenden folgen ihr im Gänsemarsch auf das Flugfeld. Als sie über eine kleine Treppe in die Maschine einsteigen, entgeht ihnen nicht der eisige Blick des russischen Zöllners, der, im Schatten der Tragfläche zum Schutz gegen die brüllende Hitze stehend, genau verfolgt, wer das Land verläßt. Eine Kollegin in Uniform kommt über das Flugfeld und flüstert ihm etwas zu. Erst dann nickt der Mann mit dem Gesicht aus Zeiten des Kalten Krieges. Der Flug nach Westen kann beginnen.

 

Der Autor ist am 18. September 1944 in Rauschen, Kreis Samland zur Welt gekommen. In Kiel, Freiburg und Köln studierte er Geschichte, Politische Wissenschaft und Romanistik. Zur Zeit arbeitet er als Sonderkorrespondent und Mitglied der Chefredaktion für DeutschlandRadio Kultur. Der Historiker und Journalist ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu geschichtlichen Themen und zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, darunter der Bücher "Die Dohnanyis - Eine Familienbiographie" und "Helmut Schmidts Rückzug von der Macht - Das Ende der Ära Schmidt aus nächster Nähe".


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