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16.06.07 / Sie leuchtet jetzt in vielen Farben / Giftpflanze des Jahres 2007: Der Fingerhut ist bewundernswert schön

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-07 vom 16. Juni 2007

Sie leuchtet jetzt in vielen Farben
Giftpflanze des Jahres 2007: Der Fingerhut ist bewundernswert schön
von Anne Bahrs

In diesen Wochen stehen die Fingerhüte, wissenschaftlich Digitalis purpurea geheißen, im schönsten Blütenschmuck. Aus fast jedem Fingerhut, der auf dem immer länger werdenden Schaft erblüht, erwächst bis in den September hinein, umgeben vom vierblättrigen Außenkelch, eine runde, zweihäusige Samenkapsel. Die länglichen Samen sind so winzig und leicht, daß 10000 Stück kaum ein Gramm wiegen! Der Wind wird diese Winzlinge aus ihrem Gehäuse schütteln und sie weit forttragen, und wir können sicher sein, daß auf jeder Waldlichtung nach zwei Jahren eine Kolonie der Roten Fingerhüte siedelt.

Digitalis purpura ist in West- und Nordeuropa heimisch, hat sich inzwischen aber auch in Nordamerika und Asien ausgebreitet.

Die Heilwirkung dieser todbringenden Giftpflanze ist altbekannt. Heute können wir ihre Wirkstoffe benennen: Es sind die Glykoside Digitalin, Digitalein, Digitoxin und Digitonin. Früher mischte man eine geringe Dosis des bitteren Pflanzensaftes, den man aus den gepressten Blättern gewann, mit Honig und reichte ihn Patienten mit Magen- und Darmbeschwerden, bereitete einen Sud aus getrockneten Blättern und Samen zur Reinigung von Wunden, einen Tee zur Entwässerung. Aber die Nebenwirkungen dieser oft wirksamen Medizin waren beunruhigend, die verordnete Dosierung mußte immer wieder in Frage gestellt werden. In Irland nannte man die hier weitverbreitete Pflanze "Dead Men's Timbles" - Totenfingerhut!

1775 interessierte sich der schottische Arzt William Withering für den Tee, den eine Kräuterfrau aus Birmingham ihren Patienten empfahl, die wegen starker Ödeme ihre Hilfe suchten. Er entdeckte, daß diese Kräutermischung getrocknete Blätter und Samen des Wolligen und des Roten Fingerhutes enthielt, und dieser Arzt konnte erstmals nachweisen, daß die Wirkstoffe des Fingerhutes den Pulsschlag verlangsamen und die Arbeit des Herzmuskels unterstützen, regulieren und dadurch Blutandrang und Ödembildung durch bessere Zirkulation vermindern.

Verstärkt widmeten Mediziner und Pharmakologen nun ihre Aufmerksamkeit den Herzkrankheiten und ihrer Behandlung mit Digitalispräparaten. Die Dosierung des Pulvers, hergestellt aus den im Spätsommer geernteten und getrockneten Blättern im ersten Jahr dieser Pflanzen, war aber sehr schwierig, die Meßwerte nicht konstant. Trotzdem setzte man große Hoffnung in diese Medizin und ließ Digitalis purpurea im großen Stil kultiviert in Österreich-Ungarn anbauen, denn Forschungsergebnisse bewiesen, daß zwischen Blütenfärbung und Dioxingehalt der Pflanze ein direkter Zusammenhang besteht. (Die purpurfarbigen Blüten enthalten wesentlich mehr Dioxin als die rosafarbigen!) In weiteren Jahren konnten die Meßmethoden wesentlich verbessert werden. Nun ließ sich beweisen, daß auch Klima und Bodenbeschaffenheit Einfluß auf den Anteil giftiger Substanzen in allen Arten der Fingerhut-Familie haben, daß eine in etwa konstante Glykosid-Zusammensetzung auch ständiger Nachzüchtung bedarf, und daß die Art der Trocknung ebenfalls eine Rolle spielt. Darum mußte die Handelsdroge auf einen bestimmten Wirkstoffgehalt eingestellt werden.

Wegen seines hohen Gehaltes an Herzglykosiden hat in den letzten Jahren der aus den Balkanländern stammende, kalkreichen Boden liebende, gelbblühende Wollige Fingerhut (Digitalis lantana) große Bedeutung erlangt. Er wird nun in weiten Kulturen auch in Afrika, Mittelamerika und in Indien angebaut. Die aus den Pflanzen der Digitalis-Familie gewonnene Herzmedizin wird auf der ganzen Welt geschätzt. Es gelang den Pharmakologen auch bereits die Herstellung synthetischer Wirkstoffe und Biotransformation durch Zellkulturen, die eine genauere Dosierung für jeden einzelnen Patienten ermöglichen und die immer noch gefürchteten Nebenwirkungen durch belastende Digitalispräparate minimieren sollen.

Foto: Fingerhut: Heilend und giftig zugleich


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