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23.06.07 / Meuterei im sibirischen Knast / Das Lachen kann einem vergehen - verlernt hat man es nicht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-07 vom 23. Juni 2007

Meuterei im sibirischen Knast
Das Lachen kann einem vergehen - verlernt hat man es nicht
von Alfons Kuhn

Vergeßt alle Vorstellungen von den Gefängnisinsassen, die in Anstaltskleidung auf langen Bänken an langen Tischen sitzen und gemeinsam ihre Mahlzeiten einnehmen. Anders im Stadtgefängnis von Stalinsk im westsibirischen Steinkohlegebiet: Dort erfolgte die "Fütterung" der Strafgefangenen in den Zellen, genau gesagt: vor den Zellen - aber das muß näher erklärt werden für Nichtkenner. Zunächst aus der Sicht des Gefängnispersonals: Zwei Wärter schieben einen großen Kübel auf Rollen vor sich her, gefüllt mit Kaffee oder Suppe, je nach Tageszeit. Vor der ersten Zelle wird angehalten, ein Wärter schlägt mit der Schöpfkelle gegen die eiserne Zellentür (das Signal für die Insassen), der andere öffnet die Klappe zur Durchreiche. Jetzt läuft alles Weitere wortlos ab, ohne Stocken wie am Fließband, für die Wärter reine Routinearbeit: Klappe auf - der erste Teller wird rausgehalten - Suppe rein - Teller zurück; der zweite Teller raus - Suppe rein und so weiter - Klappe zu - ab zur nächsten Zelle.

Unvergessen dagegen die Szenarien, die sich während jeder "Fütterung" in den Zellen abspielen: Nur einer kniet bei der Luke und reicht das Eß- oder Trinkgeschirr (beide aus dünnem Blech) durch die Öffnung nach draußen, also vor die Zellentür. Die anderen drängen sich um den Durchreicher, denn jeder will seinen Blechteller so schnell wie möglich wieder in Empfang nehmen. Aber die Suppe ist oft noch kochend heiß, der Teller bis zum Rand gefüllt - und da passiert es, daß man sich die Finger verbrennt, dem Nachbar den Arm oder einem Sitzenden beim Übersteigen die nackten Beine oder Füße. Und das hat böse Kettenreaktionen zur Folge.

Was geschah nun an jenem Tag im August 1949, an dem die Meuterei ausbrach? Schon am Morgen verrät lebhafter "Telefonverkehr" im Gefängnis, daß sich etwas zusammenbraut. (Beim "Telefonieren" werden - nach einem bestimmten Code - Nachrichten von Zelle zu Zelle mit einem Trinkbecher auf die Heizungsrohre geklopft.) Aber erst während der Progulka (dem Rundgang auf dem Gefängnishof) bekommen wir mit, daß die Russen verlangen, die Türklappen in den Zellentüren zu öffnen, damit wenigstens ein Teil der Hitze abziehen kann. Diese Forderung wird von den Wortführern auf dem Innenhof lautstark erhoben, gewürzt mit deftigen "Mutterflüchen", wie sie nur in Rußland geläufig sind.

Durch die Flüche provoziert, denken die Wärter nicht daran, diese Forderung zu erfüllen. Da wir uns an diesen Provokationen während der Progulka nicht beteiligt hatten, wird unsere Klappe - völlig unerwartet - geöffnet, so daß wir nicht nur leichten Durchzug verspüren, sondern auch das folgende Geschehen auf dem Gefängnisgang beobachten können.

Der mit dem kleinsten Kopf wird als Beobachter abkommandiert. Die erste Meldung lautet: "Alle Wärter verlassen den Gang und verschließen die Gittertür zum Ausgang." - Wie auf ein geheimes Kommando schwillt der Lärmpegel gewaltig an, denn immer mehr Insassen - auch die Frauen im oberen Geschoß - schlagen mit ihren Blechtellern in rhythmischer Folge gegen die gußeisernen Heizkörper und Heizungsrohre.

Was wird die Gefängnisleitung unternehmen? Während wir noch darüber rätseln, dröhnen dumpfe Schläge in kurzen Abständen durch den langen Flur. Dann ein gewaltiger Donnerschlag. - Unser Beobachter zieht ruckartig den Kopf zurück und stammelt aufgeregt: "Eine Zellentür schräg gegenüber ist aufgerammt worden - sie liegt im Gang und die Iwans rennen aus ihrer Zelle!" - Die "Ausbrecher" sind außer Rand und Band, rennen an den Zellentüren auf der anderen Seite vorbei, schlagen mit den Fäusten dagegen und schreien "Wolnie!" (Frei, wir sind frei).

Wie und womit konnten die Russen eine eiserne Zellentür aus der Verankerung rammen? Die Antwort war schnell gefunden: der Träger, der die Pritsche abstützt, auf der bis zu acht Mann liegen können, ein massiver Vierkantbalken, der als Rammbock wie geschaffen ist - wenn man das Kunststück fertigbringt, die beiden Enden aus der Wand zu brechen.

Natürlich hatte die Gefängnisleitung inzwischen nicht tatenlos zugesehen. Unsere Leute, die auf der Pritsche nahe an der vergitterten Fensteröffnung sitzen, hören sie zuerst: die nahende Feuerwehr mit Sirenengeheul. Noch ahnen und hören die "Ausbrecher" nichts, als auch schon das russische Kommando für "Wasser marsch!" erschallt, die Feuerwehrleute in den Gang stürmen und die halbnackten "Ausbrecher" mit dem gewaltigen Wasserstrahl in die Zellen treiben.

Während dieser Hetzjagd achtet niemand auf die offene Luke an der Zellentür der Deutschen, und so können viele von uns nacheinander für Sekunden die Szene auf dem Gang beobachten. Das dramatische Geschehen verwandelt sich plötzlich in ein Lustspiel, so daß Wärter und die Feuerwehrleute in wieherndes Gelächter ausbrechen, von dem auch wir in unserer Zelle angesteckt werden. Was war der Anlaß? Die auf dem klitschig-nassen Steinboden barfuß flüchtenden "Ausbrecher" purzeln wie angeschossene Hasen, wenn sie von dem starken Wasserstrahl getroffen und umgesäbelt werden. Nur auf allen Vieren gelingt den meisten die Flucht zurück in die offene Zelle. - Für die Dauer der Reparaturarbeiten werden die Straftäter einzeln auf die anderen Zellen verteilt. Den Wortführer der Meuterei steckt man vorerst zu den Deutschen in die Zelle, für ihn quasi eine Isolationshaft.

Nach dem spannungsgeladenen Tag bleibt uns am Ende eine lebenswichtige Erfahrung: Das Lachen ist uns in all den Jahren oft vergangen, verlernt haben wir es nicht!


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