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14.07.07 / Auf Spurensuche / Die Jagd nach Zeugnissen der eigenen Familiengeschichte

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-07 vom 14. Juli 2007

Auf Spurensuche
Die Jagd nach Zeugnissen der eigenen Familiengeschichte
von Renate Dopatka

Die Wiese scheint von Fröschen übersät. Oder sind es Kröten? Unsere Familie ist perplex. Besonders die, die hier geboren und aufgewachsen sind, wundern sich über das, was sich direkt vor ihren Füßen abspielt. Bei jedem Schritt, den wir tun, springen winzige braune Fröschlein aus dem hohen Gras empor, um sich vor unseren Schuhen und Sandalen in Sicherheit zu bringen. Ich blicke um mich und unterdrücke ein Lächeln angesichts der vorsichtig einherstaksenden Verwandtschaft. Man möchte keinen Frosch zertreten, möchte aber auch keinen der glitschigen Gesellen am nackten Bein hängen haben! Wie lange laufen wir schon durch diese grüne Wildnis? Eine halbe Stunde, eine Stunde? Ich habe jedes Gefühl für Zeit und Raum verloren ...

Es ist Ende Mai. Über uns spannt sich ein zartblauer Frühlingshimmel, an dem einzelne blendendweiße Wölkchen segeln. Am Vorabend hat es noch wie aus Kübeln geschüttet, doch als ich in der Nacht erwachte und ans Fenster tappte, funkelte ein Meer von Sternen am tiefschwarzen Himmel.

Beruhigt legte ich mich wieder schlafen. Unser Ausflug würde nicht ins Wasser fallen! Und jetzt sind wir tatsächlich hier und beschreiten jenes Fleckchen Erde, von dem sich unsere Vorfahren ernährten. Doch nichts erinnert mehr an ihre Existenz. Alle Gebäude sind verschwunden, aus Ackerflächen wurde Wald. Nur die Wiese ist geblieben, auf der jetzt die Kühe der angrenzenden Nachbarn grasen. "Vielleicht sind Bullen darunter?" witzelt Cousin Rudi und reibt sich angesichts meiner roten Bluse skeptisch das Kinn.

Aber die kleine Herde bleibt friedlich, und so zockeln wir weiter durchs Gras auf der Suche nach - ja, nach was eigentlich? Wir wissen es nicht. Es gibt keine markanten Punkte, die einen Wiedererkennungswert haben; kein Haus, in das wir einkehren könnten, selbst vom Fundament ist nichts mehr zu sehen. Für uns Nachgeborene ist es weniger schlimm als für meine Mutter und ihre Geschwister. Die Augen suchen Vertrautes und finden Fremdes. Wo ist die Birke, auf die es sich so gut klettern ließ und deren Äste mit daumendicken grünen Raupen bestückt waren? Wo der Brunnen, aus dem meine Mutter mittels eines an langer Stange befestigten Eimers Wasser schöpfen mußte? Erinnerungen laufen ins Leere ...

Irgendwann geben wir unser zielloses Herumirren auf. Am Ende der Wiese, dort, wo der dunkle Schatten dichten Erlenwaldes aufragt, liegen Überreste gefällter Bäume. Auf ihnen lassen wir uns nieder, kramen Wurst und Brötchen aus dem Proviantkorb hervor und geben uns der Stille hin. Einer tiefen, lautlosen Stille, in welcher der Ruf des Kuckucks fast etwas Mystisches erhält. Die Gedanken kommen zur Ruhe. Wir haben alle Zeit der Welt. Nichts ist so wichtig wie der schweigende Wald und der riesige Himmel über uns.

Später, als wir den Graben entdecken, der das großelterliche Grundstück von dem des Nachbarn trennte, glauben wir die Erklärung für die seltsame Froschinvasion gefunden zu haben. Der Graben ist völlig zugewachsen, so daß das Wasser zur Frühjahrsschmelze nicht mehr abfließt, sondern die Wiese überflutet. Was einst nur Weidegrund war, wird so in schöner Regelmäßigkeit zu einem riesigen Laichgewässer. Auf dem Rückweg erleben wir eine kleine Schrecksekunde. Rudi ist verschwunden! "Er wird sich kurz in die Büsche geschlagen haben", beruhigen wir uns gegenseitig. "Ganz in der Nähe muß doch unser alter Brunnen gestanden haben", glaubt sich meine Mutter erinnern zu können. "Wenn die Holzwandungen verfault sind und der Brunnen nicht zugeschüttet wurde ..." Und schon beginnt sie zu rufen. "Ruudi!" schallt es dem geheimnisvollen Dunkel des Waldes entgegen. Wir lauschen. Lauschen in die sich wieder ausbreitende Stille hinein, die plötzlich fühlbar geworden ist und uns die absolute Einsamkeit und Abgeschiedenheit dieses Landstrichs erst so richtig ins Bewußtsein brennt. Bange Sekunden vergehen, bis endlich feines Knacken im Unterholz ertönt und zwischen Gestrüpp und Baumstämmen Rudis Gestalt sichtbar wird. Ja, er hat sich in die Büsche geschlagen, ist danach noch ein bißchen rumgelaufen und hat - in Ermangelung von Weg und Steg - nicht gleich den Rückweg gefunden.

Der Tag geht glücklich zu Ende. Und doch ist die Bilanz, die ich abends ziehe, keine ausschließlich heitere. Noch hallen die sich in der Einsamkeit verlierenden Rufe in mir nach, noch spüre ich den stillen, herben Atem des Landes, und mir wird klar, warum der Blick zurück immer auch ein schwermütiger sein wird.


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