20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
21.07.07 / Gewollt vergessen, um sich zu erinnern / Ein gutes Gedächtnis darf nicht mit unwichtigen Informationen überlastet sein

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-07 vom 21. Juli 2007

Gewollt vergessen, um sich zu erinnern
Ein gutes Gedächtnis darf nicht mit unwichtigen Informationen überlastet sein
von Corinna Weinert

Gedächtnisforscher haben eine besondere Kunst entdeckt: absichtliches Vergessen. Wer es beherrscht, kann sich Wichtiges besser merken. Wer sich dagegen an alles erinnern will, behält weniger. Absichtliches Vergessen - klingt das nicht paradox? Täglich sind wir bemüht, alle Termine einzuhalten, an die Geburtstage der Verwandten zu denken, die noch ausstehenden Rechnungen zu bezahlen und anderes mehr. Stets mahnen wir uns, nichts davon zu vergessen.

Das Vergessen hat für uns eine negative Bindung an das Unangenehme und Unerwünschte. Landläufig gilt ein Gedächtnis, in dem Informationen auf Nimmerwiedersehen verschwinden, noch immer als "schlecht". Mit immer neuen Methoden sollen wir unseren Denkapparat fit halten, denn nur ein optimal funktionierendes Gedächtnis ist ein gutes Gedächtnis. Das Vergessen dagegen gilt in jeder Hinsicht als Feind, als Schwäche, als Unvermögen.

Nun aber lehren uns Vergessensforscher, daß Vergänglichkeit auch Vorteile bringt: Wer Unnützes umgehend wieder losläßt, reserviert Speicherplatz für Wichtiges. "Die Fähigkeit, vergessen zu können", sagt Marcus Hasselhorn, Entwicklungspsychologe an der Universität Göttingen, "ist eine essentielle Grundfunktion, die unser Gedächtnis leistet." Nur wer Unnützes umgehend wieder losläßt, reserviert Speicherplatz für Wichtiges.

Aus der Hirnforschung wissen wir heute nämlich, daß unser Gedächtnis nicht über beliebig viel Speicherplatz verfügt. Die Einschränkung betrifft allerdings nur das Kurzzeit-, nicht aber das Langzeitgedächtnis. Während dort die Ressourcen fast unerschöpflich sind, wirtschaftet das Kurzzeitgedächtnis sparsamer. Um die Aufnahme von Informationen zu optimieren, benutzt es einen Trick: absichtliches Vergessen.

Mit einem eindrucksvollen Versuch demonstrierte Jörg Behrendt, der sich der Thematik an der Universität Göttingen im Rahmen seiner Promotion gewidmet hat, daß Vergessen eine höchst konstruktive Leistung darstellt: Er wies nach, daß sich alte Menschen vor allem deshalb schlechter erinnern können, weil sie weniger gut vergessen. Um diese erstaunliche Erkenntnis zu untermauern, lud Behrendt zwei Gruppen von Probanden in sein Labor - Studenten zwischen 20 und 35 und Senioren zwischen 60 und 75 Jahren. Sie wurden gebeten, sich an verschiedene Wörter zu erinnern, die man ihnen an einem Computer präsentierte.

Nachdem 16 Wörter über den Bildschirm geflimmert waren, behauptete Behrendt plötzlich, nun sei der Computer leider abgestürzt. Der Versuch müsse mit neuen Begriffen wiederholt werden. Die soeben gezeigte Liste sei also bitte zu ignorieren. Die Testpersonen versuchten, die alten Wörter absichtlich zu vergessen und sich statt dessen die neuen zu merken.

Nach einiger Zeit bat Behrendt seine Probanden aber, sich nun doch an alle Wörter zu erinnern und sie zu notieren. Erwartbar wäre, daß dabei die Wörter, welche die Probanden vergessen sollten, schlechter memoriert werden als die danach gelernten. Das war bei den jüngeren Versuchspersonen tatsächlich der Fall.

Bei den älteren Versuchspersonen dagegen stellte der Forscher keinerlei Unterschied fest. Sie speicherten alle Wörter gleich - und zwar gleich schlecht. Sie konnten offenbar trotz Aufforderung die erste Wörterliste nicht vergessen und sich daher die zweite auch schlechter merken.

Der Vergleich mit einer entsprechenden Kontrollgruppe von älteren Probanden, der kein "Computerabsturz" präsentiert wurde, zeigte, daß die Leistung ihres Kurzzeitgedächtnisses erheblich hinter dem der jüngeren Probanden zurücklag. Daher lautet die wenig ermutigende Botschaft aus Göttingen, "daß wir mit den Jahren immer weniger in der Lage sind, als irrelevant gekennzeichnete Items absichtlich zu vergessen".

Bevor sich die Kognitionsforschung der Frage widmen kann, welche Funktion das Vergessen hat, muß erst einmal geklärt werden, wie Vergessen überhaupt funktioniert. Die Antwort dürfte nicht nur die Lernforscher interessieren, sondern auch jene Psychologen, die sich mit der Therapiemöglichkeit von traumatischen Erfahrungen befassen. Denn der Trick, gewollt zu vergessen, scheint auch dort eingesetzt zu werden.

Nicht alle traumatischen Ereignisse werden gleich gut erinnert. Manche brennen sich ins Gedächtnis ein und lassen die Betroffenen nicht mehr los. Andere aber werden vom Erinnerungsvermögen gleichsam ausgeblendet. Das "Wegdrücken" unerwünschter Bewußtseinsinhalte bezeichnet man als "Verdrängung". Oft bleiben die Emotionen, die solche traumatischen Erlebnisse begleiteten, jahrelang präsent - in Form von Depressionen, Panikattacken oder Schlafstörungen tauchen sie als Beiwerk der nicht mehr im Bewußtsein vorhandenen Geschehnisse plötzlich als Erinnerung unkontrolliert wieder auf. Vielfach dokumentiert sind solche Fälle der sogenannten traumatischen Amnesie bei sexuellem Mißbrauch oder Kriegsopfern.

Es gibt aber auch Fälle, in denen die Geschehnisse als Ganzes auf einmal wieder da sind. Hier setzt die Erinnerung zumeist unvermittelt wieder ein, nachdem sie lange Zeit so gut wie ausgelöscht schien. Inzwischen gibt es für das Vergessen von traumatischen Erlebnissen eine medizinische Erklärung: Der extreme Streß führt im Gehirn zu einer verstärkten Ausschüttung von Cortisol, das als Streßhormon bekannt ist. Cortisol verbindet sich mit Rezeptoren im Hippocampus. Ist die Emotion zu stark, werden die Rezeptoren mit Cortisol überschwemmt. Als Folge davon kann der Hippocampus die traumatischen Erfahrungen nicht mehr zu einem einheitlichen Ganzen ordnen. Es kommt zu einem Durcheinander von überdeutlichen Details und Erinnerungsfetzen, die sich auf die nicht mehr im Bewußtsein vorhandenen Geschehnisse beziehen.

Das Wissen um die chemischen Abläufe im Gehirn wollen Neurologen jetzt nutzen, um die ent-sprechenden Hirnprozesse durch Medikamente oder mechanische Reize von außen zu beeinflussen. Ließe sich das Vergessen kontrollieren, wäre es vielleicht möglich, daß die traumatischen Ereignisse aus der Erinnerung getilgt werden.

Doch kann man das Vergessen eventuell auch durch entsprechendes Hirntraining einüben? Um absichtliches Vergessen erfolgreich einsetzen zu können, müssen wir innerlich überzeugt sein, daß die entsprechenden Informationen irrelevant sind. Die Vergessensforschung hat zudem nachgewiesen, daß die Fähigkeit hierzu nicht in allen Lebensaltern gleich vorhanden ist. Sie beginnt etwa mit sechs bis sieben Jahren, entwickelt sich bei Erwachsenen und scheint bei älteren Menschen wieder abzunehmen. Allerdings sind solche Feststellungen bislang erst in Bezug auf das Kurzzeitgedächtnis zu machen.

Was aber folgt nun aus den Untersuchungsergebnissen? Lernen wir durch absichtliches Vergessen effizienter? Sollen wir beizeiten absichtliches Vergessen einüben, damit wir in der Lage sind, uns später Dinge besser zu merken? Hierauf haben Behrendt und Hasselhorn noch keine Antwort. Doch in jedem Fall steht für die beiden Vergessensforscher fest: Ein gutes Gedächtnis ist immer auch ein schlechtes Gedächtnis.

Foto: Erinnerung ungetrübt: Im Alter ist es schwieriger, absichtlich zu vergessen.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren