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04.08.07 / Verwirrspiel um Opferzahlen / Rußland: Tote des Stalin-Terrors unter Weltkriegsopfern versteckt oder als »Kleinkram« abgetan

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-07 vom 04. August 2007

Verwirrspiel um Opferzahlen
Rußland: Tote des Stalin-Terrors unter Weltkriegsopfern versteckt oder als »Kleinkram« abgetan
von Wolf Oschlies

Oberst Sergej Iljenkow, Chef des Archivdienstes im Verteidigungsministerium der Russischen Föderation, kündigte unlängst den Abschluß einer großen Arbeit an. Mittels einer elektronischen Datenbank will man bis März 2008 alle Menschenverluste der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg exakt berechnen. Nach bisherigen offiziellen Angaben von Ende der 1980er Jahre betrugen diese 26,6 Millionen Menschen, davon 8,66 Millionen Soldaten.

Wie der russische Militärhistoriker Georgij Kumanow 2005 berichtete, hat es um die Opferzahlen ein jahrzehntelanges Verwirrspiel gegeben. 1946 beauftragte Stalin die Staatliche Planungskommission mit eingehenden Ermittlungen. Deren „Bilanz“, binnen weniger Tage erstellt, ergab 16 Millionen, was Stalin überhöht erschien. „Lassen wir es bei sieben Millionen“, befahl er. 1957 begann man mit der Arbeit an einer sechsbändigen Kriegsgeschichte, wofür eine eigene „Brigade“ erneut Opferzahlen ermittelte und auf „über 25 Millionen“ kam. Das gefiel dem damaligen Parteichef Chruschtschow nicht, der kurzerhand anordnete: „Schluß jetzt, schreiben Sie: über 20 Millionen!“ Dabei blieb es bis in die 1980er Jahre, als eine gemischte Kommission von Verteidigungsministerium und Akademie der Wissenschaften die erwähnten 26 Millionen dokumentierte. Im Mai 1990 ließ Gorbatschow erneut zählen, kam auf „fast 27 Millionen“ und 2005 sprach Präsident Putin davon, „daß die Sowjetunion rund 50 Millionen Menschen verloren“ habe.

Niemand bestreitet, daß die Sowjetunion ungeheure Kriegsopfer gebracht hat - wie auch kaum ein Russe den offiziellen Angaben glaubte. Die sowjetischen Statistiken wiesen einfach zu viele Löcher, Lücken und Lügen auf, um das Ausmaß menschlichen Leids glaubwürdig zu spiegeln. Was verbarg sich zum Beispiel hinter dem häufig verwendeten Begriff „unwiederbringliche Verluste“? Enthielt er auch die rund 1,1 Millionen aus deutscher Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Rotarmisten, die Stalin alle als „Verräter“ ansah und oft genug umbringen ließ? Jetzt haben das Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums (Podol’sk, Moskau), das Zentralarchiv der Kriegsmarine (Gatschina, St. Petersburg) und die Dokumentationen des Militärmedizinischen Museums in Moskau ihre Millionen Akten erneut geprüft.

Der Stalin-Biograph Boris Souvarine hat das Bevölkerungsdefizit des Stalin-Terrors (Getötete und rückläufige Geburtenraten) auf 100 Millionen geschätzt - so viele, wie der Pole André Stawar, der russische Statistiker Kurganow und andere in den 1960er Jahren allein als Opferzahlen der Todeslager von Stalins Gulag ansetzten. Ob diese Zahlen ganz oder nur zum Teil zutreffen, ist für moderne russische Demographen wie Anatolij Wischnewskij sekundär. Primär ist, ob Stalin und seine Nachfolger die Opferzahlen des eigenen Terrors, der eigenen Fehler unter den Kriegstoten des Zweiten Weltkriegs „versteckten“, einen „Opfermythos“ schufen, „der bis auf den heutigen Tag anhält“.

„Bis heute ist es guter Ton“, kritisierte Wischnewski, „an das Heldentum der Kriegsjahre zu erinnern und die Schuld Stalins zu verschweigen, der das Land nicht auf den Krieg vorbereitet hatte, dessen Verteidigungsaktionen anfänglich Stümperei waren und der spätere Siege nur durch ,verschwenderischen‘ Umgang mit Menschenleben errang.“ Von Stalin verursachte Millionenverluste blieben den Menschen unbekannt, weil die „Fälschung demographischer Daten“ in der Sowjetunion Alltag war. Wenn Verluste nicht gleich als „melotsch“ (Kleinkram) abgetan wurden, wie Wischnewski erläuterte: Von Dezember 1939 bis März 1940 führte Stalin seinen „Winterkrieg“ gegen Finnland, der die Rote Armee mindestens 127000 Tote und 265000 Verwundete kostete. Von diesem „Kleinkram“ erfuhr die Öffentlichkeit nichts, obwohl die Verlustzahlen von Stalins Abenteuer etwa die Hälfte der Gesamtverluste der USA und Großbritanniens im Weltkrieg betrugen.

Hungersnöte in den 1920er Jahren, politischer Terror in den 1930ern, Kriegstote in den 1940ern und erneuter Terror in den frühen 1950ern waren die blutige Bilanz des Stalinismus, der die Sowjetunion nach vorsichtigsten Schätzungen über 40 Millionen Menschen kostete. Das waren nur die direkten Todesopfer, über die indirekten Folgen, wie sie sich vor allem in stark rückläufiger Geburtenrate und explodierender Sterberate zeigten, kann man nur Mutmaßungen anstellen.

„Das Leben wurde fröhlicher und leichter“, verkündete Stalin 1935, während im Lande Millionen verhungerten, als „Kulaken“ (Großbauern), „Volksfeinde“ oder „Spione“ erschossen, als „mushiks“ (Bauerntölpel) im Kriege verheizt wurden. Nach Berechnungen des Demographen Wolkogonow „gingen allein durch Stalins Repressionen von 1929 bis 1953 21,5 Millionen Menschen verloren“.

Keine genauen Zahlen: Eine ältere Frau zeigt in Moskau Bilder ihrer Eltern, die in Stalins Vernichtungslagern ums Leben kamen. Millionen von Russen starben in der Stalinzeit in den Arbeitslagern des NKWD. Foto: pa


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