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04.08.07 / Die Bank unterm Apfelbaum / Auch im Alter braucht man noch Ziele im Leben

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-07 vom 04. August 2007

Die Bank unterm Apfelbaum
Auch im Alter braucht man noch Ziele im Leben
von Albert Loesnau

Als der Omnibus den Stadtrand erreichte, zerteilte sich der graue Dunst am Himmel. Ein Sonnenstrahl huschte über das Land und ließ das Grün der Wiesen und Felder kräftiger leuchten. Heinrich Sandner lehnte sich in seinem Fensterplatz zurück und lächelte erwartungsvoll. Endlich hatte er sich aufgerafft, dem gleichförmigen Trott zwischen Wohnung und Parkanlage zu entfliehen.

Seit er vor einem Jahr in Rente gegangen war, brauchte er nicht mehr die Post von Haus zu Haus auszutragen. Bewußt mied er seitdem den Weg, auf dem er jeden Pflasterstein, die Namen aller Anwohner und jeden Klingelknopf kannte. Anfangs war Heinrich Sandner wunschlos glücklich gewesen. Endlich hatte er Zeit gefunden, sich auszuschlafen, in aller Ruhe mit seiner Frau zu frühstücken, die Zeitung zu lesen und die Stunden müßig dahingehen zu lassen. Gelegentlich nahm er Erna die kleinen Besorgungen ab oder half ihr im Haushalt.

Doch so nach und nach hatte sie ihm zu verstehen gegeben, daß sie ganz gut allein mit ihrer Arbeit zurechtkam. Und um nicht untätig in der Wohnung herumzusitzen, begann Heinrich spazieren zu gehen. Im nahegelegenen Park traf er mit Männern seines Alters zusammen, denen es genauso erging wie ihm. Man unterhielt sich miteinander. Aber bald drehten sich die Gespräche im Kreis.

Sandner entfloh dieser Einförmigkeit. Er wanderte ziellos durch die Stadt. Doch er war allein. Wenn er nach Hause zurückkehrte, blieb er mürrisch und verschlossen. Erna versuchte, ihn aufzuheitern. Aber es gelang ihr nur für kurze Zeit. Trotzdem wurde Heinrich bewußt, daß seine Frau sich niemals über etwas beklagt hatte. So verlor sie beispielsweise kein einziges Wort darüber, daß das ohnehin knapp bemessene Haushaltsgeld seit der Pensionierung noch weniger geworden war.

Das Leben hatte ihnen nicht viele unbeschwerte Stunden geschenkt. Seit Jahren verzichteten sie auf eine Urlaubsreise, weil die Berufsausbildung des Sohnes vorging. Später mußte dann die Aussteuer der Tochter zusammengespart werden. Und als es schließlich keine Verpflichtungen mehr gab, stieß eine langwierige Erkrankung Ernas alle Ferienpläne um. Danach waren sie noch einmal für zwei Wochen fortgefahren. Heinrich Sandner erinnerte sich gern an das hübsche, ländliche Gasthaus, in dem sie gewohnt hatten. Es lag inmitten eines Gartens. Morgens wurden sie vom Gesang der Vögel geweckt, der durchs offene Fenster drang. Ziellos waren sie in den Wäldern herum gewandert. Nie zuvor hatte Heinrich seine Frau so heiter und unbeschwert erlebt. Wie ein junges Mädchen kam sie ihm vor. Eines Tages hatte er sie im ganzen Haus gesucht und im Garten gefunden. Erna saß auf einer Bank unter einem Apfelbaum, den Kopf an den Stamm gelehnt. Sie hielt die Augen geschlossen. Das Sonnenlicht, das durch die Baumkronen drang, malte flirrende Flecke auf ihr Kleid. Als er sich neben sie setzte, hatte sie ihn angesehen und gesagt: „Unter solch einem Apfelbaum möchte ich mit dir sitzen, wenn wir beide einmal alt geworden sind.“

Bis zum heutigen Tag waren Heinrich diese Worte in Erinnerung geblieben. Gern hätte er seiner Frau den bescheidenen Wunsch erfüllt. Doch in ihrer Strasse, auf engem Raum zwischen hoch aufragenden Wohnhäusern, blieb kein Platz für einen Garten oder einen Baum. Längst schon hatte Heinrich den Gedanken daran aufgegeben. Da war sein Blick vor einigen Wochen auf eine Zeitungsanzeige gefallen, die sofort sein Interesse geweckt hatte. Ohne daß seine Frau davon erfuhr, schrieb er einen Brief und brachte ihn zur Post. Wenige Tage später erhielt er die Antwort. Ohne zu zögern, hob er einen Betrag vom Sparbuch ab und trug das Geld mit sich herum, damit Erna es nicht durch Zufall fand.

Ihr war die offensichtliche Veränderung ihres Mannes nicht verborgen geblieben. Er pfiff fröhlich vor sich hin und eilte geschäftig hin und her. Doch Erna stellte keine Fragen. Deshalb erfuhr sie auch nicht, warum Heinrich an diesem Morgen zu ungewohnt früher Stunde mit einem Lächeln die Wohnung verließ ...

Der Bus hielt an der Endstation im südlichen Vorort der Stadt. Heinrich Sandner stieg aus und folgte der Strasse, die zwischen den letzten Häusern zum Gelände einer Kleingartenanlage führte. Er ging einen Kiesweg entlang, der die liebevoll angelegten Schrebergärten voneinander trennte. Kleine Lauben verbargen sich hinter Hecken und Ziersträuchern. Über Blumenbeeten breiteten halbhohe Obstbäume ihre Zweige aus.

An der letzten Parzelle wartete ein Mann. Er streckte Heinrich Sandner die Hand entgegen und führte ihn auf das kleine Grundstück. Sie sprachen lange miteinander. Der Mann nahm das Geld, das Sandner ihm gab. Dann unterschrieben beide eine Vereinbarung. Als Heinrich wieder nach Hause kam, verriet er seiner Frau mit keinem Wort, wo er gewesen war. Doch beim Abendessen schlug er ihr einen Ausflug in die Umgebung vor. Überrascht stimmte Erna zu. Am nächsten Vormittag fuhren sie mit dem Bus zur Endhaltestelle. Als Hubert geradewegs der Laubenkolonie zustrebte, sah seine Frau ihn fragend an: „Kennst du dich hier aus?“

Er nahm ihren Arm und meinte geheimnisvoll: „Komm nur mit, du wirst schon sehen ...“

Sie gingen über den Kiesweg zur letzten Parzelle. Wild wuchernde Büsche umgaben ein Gartenhäuschen mit abblätternder Farbe. Davor reckte ein knorriger Baum seine Zweige aus. Eine Bank stand darunter. Heinrich machte eine einladende Geste. „Willst du dich nicht setzen? - Das alles gehört uns!“

Erna war verwirrt. „Ist das etwa ein Scherz?“ fragte sie. Heinrich schüttelte den Kopf. „Keinesfalls. Ich habe gestern den Schrebergarten gepachtet, weil der alte Besitzer sich nicht mehr darum kümmern konnte. Natürlich muß einiges in Ordnung gebracht werden. Die Laube werde ich neu streichen, auf das Dach gehört ein neuer Belag aus Teerpappe. Für ein paar Blumenbeete ist da drüben noch Platz ...“

Zögernd hatte Erna sich auf die Bank gesetzt. „Es ist wunderschön hier“, sagte sie.

Heinrich setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schulter. „Vor langer Zeit sagtest du einmal, daß du mit mir unter einem solchen Baum sitzen möchtest, wenn wir alt geworden sind ...“

Erna lehnte den Kopf an den Stamm und sah ihren Mann an. „Ist es ein Apfelbaum?“

„Ja“, nickte er. „Es ist ein Apfelbaum.“


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