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25.08.07 / Morgenmuffel contra Frühaufsteher / Zeitversetzt lebende Mitmenschen sind in unserer Gesellschaft einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 34-07 vom 25. August 2007

Morgenmuffel contra Frühaufsteher
Zeitversetzt lebende Mitmenschen sind in unserer Gesellschaft einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt
von Corinna Weinert

Wenn um 6.00 Uhr morgens der Wecker klingelt, beginnt für Tina eine Qual. Die Realschullehrerin braucht in der Regel eine halbe Stunde zum Aufstehen und wird nur mit zwei Tassen Kaffee mühsam wach. Doch es hilft alles nichts, um viertel vor acht muß sie in der Schule sein. Die erste Unterrichtsstunde empfindet die 32jährige meist als blanken Horror. Da der Körper noch nicht auf Touren ist, geht ihr der Lärm der Schüler gehörig auf die Nerven. Tina ist kein Einzelfall. Rund zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung kommen morgens nur schwer aus dem Bett, so schätzen Schlafforscher.

Vollstes Verständnis für all jene, die beim Sprichwort „Morgenstund hat Gold im Mund“ nur herzhaft gähnen können, haben die rund 100 Lobbyisten von „delta t“, dem Verein für Zweitnormalität e.V. „Delta“ steht für Differenz und „t“ wie in der Physik für Zeit (lat. tempus). Mitglieder im Verein sind unter anderem Altenpfleger, Graphikdesigner, Straßenbahnfahrer und Showmaster wie Jürgen von der Lippe.

Zweitnormalität bezeichnet ein Leben, das zeitversetzt stattfindet. Als normal wird angesehen, wer früh aufsteht. Ein Bedürfnis nach mehr als den durchschnittlichen 7,4 Stunden Nachtruhe wird ebenso wie ein zeitversetzt stattfindender Schlaf-Wach-Rhythmus von den Mitmenschen selten toleriert. Üblicherweise heißt es, das eine Verhalten sei normal, das andere unnormal. Oft werden die Betroffenen als Faulpelz beschimpft, als Langschläfer oder Morgenmuffel verspottet, teilweise sogar als Nichtsnutz getadelt. 

Ziel der Lobbyisten für den gerechten Schlaf ist es, den zeitversetzt Lebenden „zu Anerkennung, Toleranz und einem ihrer Natur entsprechenden Leben zu verhelfen“. Unter anderem kämpft „Delta t“ gegen den Ladenschluß und für ein Netzwerk zeitversetzt angebotener Dienstleistungen, denn die zeitversetzt Lebenden sind in unserer Gesellschaft einer Vielzahl von Benachteiligungen und Hindernissen ausgesetzt. Die Erstnormalität – so nennen die zeitversetzt Lebenden das früh morgens beginnende Treiben – dominiert unsere Welt, und entsprechend ist ihr Einfluß auf die Arbeitszeiten, Schulzeiten oder Öffnungszeiten von Behörden. Wer erst mittags auftaucht, steht vor verschlossenen Türen oder wird beim Einkauf nach Feierabend mit überhöhten Preisen in Tankstellen bestraft. „Hier können wir leider nur wenig bewegen“, erklärt Günter

Woog, Vorsitzender von „Delta t“. Das Drama fängt für die Betroffenen bereits in der Kindheit an, wenn sie zu unchristlichen Zeiten aus dem Bett und in den Kindergarten getrieben werden, später kämpfen sie dann mit dem viel zu früh startenden Schulunterricht und dem unmenschlich frühen Arbeitsbeginn. „Ein Mitglied hat einmal versucht, eine Delta-t-Schulklasse einzurichten, also eine Klasse, deren Unterricht später beginnt und endet als der übliche Schulunterricht. Leider stieß dieser Versuch auf Ablehnung bei der Schulbehörde“, so Woog.

Mehr Erfolg haben da unsere Nachbarn in Dänemark. Die 29jährige Ingenieurin Camilla Kring hat den Kampf gegen die Herrschaft der Frühaufsteher zu ihrer Mission gemacht. Mit der „B-Gesellschaft“, einer Lobbygruppe für B-Menschen, so bezeichnet man dort die Betroffenen, bläst sie zum Generalangriff auf die „Tyrannei der Frühaufsteher“. Nach intensiven Beratungen mit den Experten der Gruppe startet nach den Sommerferien eine Oberstufen-Schule in Kopenhagen die erste B-Klasse im toleranten Königreich – Unterrichtsbeginn 12.30 Uhr. „Seit der Ankündigung am schwarzen Brett werden wir überschüttet mit Anfragen“, sagt Lehrer Ole Vadmand. Kein Wunder. Vor allem für Teenager ist frühes Aufstehen aus rein biologischen Gründen das nackte Grauen, das steht wissenschaftlich inzwischen außer Frage. Vor allem Schüler im Alter von 16 bis 18 neigen dem Regensburger Psychiatrie-Professor Jürgen Zulley zufolge dazu, lange beziehungsweise zeitversetzt zu schlafen. „Das, was denen in der ersten Stunde erzählt wird, kann man praktisch vergessen“, so Zulley. Immerhin, so glaubt der Professor, werden mindestens 90 Prozent der Menschen nach der anstrengenden Pubertät zu Schlaf-Normalos, die locker um neun Uhr morgens frisch sein können.

Rund sechs Prozent der Bevölkerung machen nach Meinung von Schlafforscher Morten Møller den harten Kern der Morgenmuffel aus. Auf 15 bis 25 Prozent schätzen die Wissenschaftler den Anteil der Gesamtgruppe an „B-Menschen“ an der Bevölkerung.

In einem wesentlichen Punkt unterscheidet sich Dänemark von Deutschland: Arbeitgeber nehmen die B-Gesellschaft mit ihren Anliegen ernst. So kann der Verein schon den „ersten B-Vertrag in Dänemark“ bejubeln: Eine Sportwissenschaftlerin setzte im Bewerbungsgespräch durch, daß sie im Gegensatz zum Rest der Kollegen nicht um 8.30 Uhr, sondern erst um 10 Uhr auf der Matte stehen muß. Neben dem wissenschaftlichen Anstrich hat das noch einen weiteren Grund: Die Arbeitslosenquote liegt in Dänemark bei 3,9 Prozent, überall fehlen Fachkräfte. Daher sind Chefs wohl eher mal bereit, ungewöhnliche Wünsche von Mitarbeitern zu dis-kutieren.

Zustände, von denen Günter Woog nur träumen kann. Der 52jährige startete seinen ersten und einzigen Versuch, ein geregeltes Angestelltendasein zu führen, in den 80ern bei einem Fernsehsender. Ein Drama. „Eigentlich war es wurscht, wann die Arbeit gemacht wurde, so lange sie zu einer bestimmten Deadline fertig war. Trotzdem galt: Arbeitsbeginn 9 Uhr. Ich habe um jede Minute Schlaf gekämpft. Zeitschaltuhr an der Kaffeemaschine, ein süßes Stück im Auto, irgendwann habe ich mich bei der Fahrt sogar rasiert.“ Trotzdem fiel das Frühstück in der Kantine immer öfter mit dem Mittagessen der Kollegen zusammen. Nach 14 Monaten war das Experiment beendet. „Mein Vorgesetzter glaubte, mein Verhalten zersetze die Moral der Abteilung“, sagt Woog. In einer Gesellschaft, in der sich unzählige Tätigkeiten zu jeder Tages- und Nachtzeit erledigen lassen, gehören selbst-bestimmte Arbeitszeiten zum „Recht auf freie Lebensgestaltung“, meint der selbstständige Graphiker. Das Bestreben, zeitversetzt lebenden Menschen den Zeitplan der Frühaufsteher aufzuzwingen, findet Woog regelrecht kriminell: „Das grenzt schon an Körperverletzung“, so der überzeugte Langschläfer.

Foto: Um jede Minute Schlaf kämpfen: Zeitversetzt lebende Menschen haben es schwer.


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