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01.09.07 / »Nichts ist mir zu klein« / Samländische Lokalhistorie in Kempowskis Manier

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-07 vom 01. September 2007

»Nichts ist mir zu klein«
Samländische Lokalhistorie in Kempowskis Manier

Trüge nicht schon eines der auflagenstärksten „ernsten“ Bücher seit 1945, Daniel Kehlmanns „Vermessung der Welt“, diesen Titel, hätte ihn der pensionierte Pastor und passionierte Lokalhistoriker Klaus Schulz-Sandhof mit guten Gründen für seine Geschichte des samländischen Kirchdorfes Rudau verwenden dürfen.

2006 erschien der dritte, als „Bausteine zu einer Regionalgeschichte“ konzipierte Teil, unter dem etwas melancholischen Rubrum „Abschied von Rudau“, und vor kurzem legte der Autor die zweite, „wesentlich verbesserte Auflage“ des auf das 20. Jahrhundert konzentrierten zweiten Bandes der Rudauer Ortgeschichte vor.

Bereits beim Durchblättern seines im Atlasformat erschienenen Opus fällt auf, daß Schulz-Sandhof zwar bei Kehlmann den Titel hätte entleihen können, daß er aber methodisch einem anderen Schriftsteller viel näher steht: dem als „Chronisten der Deutschen“ gefeierten Walter Kempowski. Ganz in der Collage-Manier des Rostockers, der aus Spielzeugsoldaten und Hochzeitphotos „Erinnerungsanker“ verfertigt, geht der 1933 in Königsberg geborene Schulz-Sandhof vor: Heimatgeschichte mit dem Finger auf dem Meßtischblatt. Dabei wird jeder Stein umgedreht, jedes Relikt, vom Kleinbahnfahrschein bis zum Hausgrundriß, findet Beachtung. Wagt man sich hinter Kempowski weit zurück auf den Hamburger Aufklärungspoeten Barthold Heinrich Brockes, diesem „ersten wirklichen Realisten und Kirchenvater der deutschen Naturbeschreibung“ (Arno Schmidt), darf der Heimatchronist Schulz-Sandhof sogar gleich ihm ausrufen: „Nichts ist mir zu klein“.

Das bewährt sich im dritten Band, der „Gebäude-, Güter- und Einwohnerliste“ Rudaus, die aktuelle, von endloser Tristesse zeugende Erhebungen im postsowjetischen Brachland ergänzen. Das bewährt sich aber vor allem vorzüglich im zweiten Band.

Mit kühnen Ausgriffen verknüpft der Chronist hier Heimat- mit Weltgeschichte, wenn er etwa den Bogen schlägt vom „Durchgangslager Rudau“ zum Lebensweg des SS-Brigadeführers Otto Rasch.

Ihre Feuerprobe besteht solche Mikrohistorie indes beim „Holocaust am Bernsteinstrand“, der Massentötung jüdischer Zwangsarbeiter in Palmnicken Ende Januar 1945.

Diese vom Zeitzeugen Martin Bergau in zwei Büchern beschriebenen Ereignisse scheinen sich in der quellenkritischen Analyse Schulz-Sandhof nun doch anders darzustellen.

Die akribische Rekonstruktion, die weder bei Bergau zu finden ist noch in Aufsätzen von Reinhard Henkys und Andreas Kossert, die primär auf politisch-moralisierende Publikumseffekte spekulieren, läßt erhebliche Zweifel am Tathergang wie an der Opferzahl aufkommen.

War Kossert doch nicht einmal in der Lage, den Dienstgrad der verantwortlichen SS-Charge zu ermitteln, die er nachträglich vom Oberschar- zum „Sturmführer“ ernennt, von anderen phantasievollen Ausmalungen und der notorischen „Aufrechnung“, wonach dieser Vorfall die Vertreibung rechtfertige, gar nicht zu reden. Gegen solche Legendenbildung im Geist „politischer Korrektheit“ erhebt Schulz-Sandhofs „Vermessung“ der samländischen „Welt“ nun überzeugend Einspruch.    Christian Tilitzki

Klaus Schulz-Sandhof: „Rudau. Geschichte eines ostpreußischen Dorfes“, Teil III: „Abschied von Rudau“, 2006 und: Tl. II: „Radau in Rudau“, 2., wesentl. verb. Auflage 2007, Drethem: Selbstverlag, je 300 Seiten, reich illustriert


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