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15.09.07 / Alkoholopfer im Mutterleib / Der Stoffwechsel eines Embryos ist nur bedingt in der Lage, Giftstoffe wie Alkohol abzubauen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 37-07 vom 15. September 2007

Alkoholopfer im Mutterleib
Der Stoffwechsel eines Embryos ist nur bedingt in der Lage, Giftstoffe wie Alkohol abzubauen
von Corinna Weinert

Es ist Mittagszeit im Spandauer Kinderheim Sonnenhof, die Jungen und Mädchen der Wohngruppe „Nemo“ sitzen gemeinsam am großen Eßtisch und lassen sich das Hühnchen schmecken. Während die meisten Kinder dabei ausgelassen plaudern und lachen, stochert Björn stumm auf dem Teller umher. Björn ist zehn, wirkt aber, als wäre er gerade mal sechs. Das Kauen und Schlucken fällt dem schmächtigen Blondschopf schwer, und auch die Koordination von Gabel und Messer bereitet ihm im Gegensatz zu den Jungen und Mädchen um sich herum erhebliche Probleme. Noch weitaus deutlicher unterscheidet sich Björn von den anderen jedoch durch sein auffälliges Gesicht: hängende Augenlider, schmale Lippen, flacher Nasenrücken und tiefsitzende Ohren – die typischen Merkmale der Alkoholembryopathie (AE). Hiermit bezeichnen Fachleute geistige und körperliche Schäden, die das Ungeborene im Bauch der Mutter erleidet, wenn die während der Schwangerschaft Alkohol trinkt.

Das Ungeborene „trinkt“ dabei nämlich mit, innerhalb kurzer Zeit hat es über die Nabelschnur den gleichen Alkoholpegel wie die Mutter. Im Gegensatz zu ihr ist das Ungeborene allerdings viel länger der wie Gift auf die Körperzellen wirkenden Substanz ausgeliefert, weil sein Stoffwechsel nur bedingt in der Lage ist, Alkohol abzubauen. „Hierdurch kann es zu schwerwiegenden Entwicklungsstörungen beim Ungeborenen kommen, die das ganze Leben lang bleiben“, erklärt Dr. Reinhold Feldmann von der Universitäts-Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin in Münster. „Gewebe und Organsysteme bilden sich unter Alkoholeinwirkung fehlerhaft aus, wie schwerwiegend die Behinderungen der Kinder letztendlich sind, hängt davon ab, wie viel Alkohol die Mutter während der Schwangerschaft konsumiert und wie ihr Körper ihn verarbeitet hat“, so der Experte.

Knapp 80 Prozent aller Frauen in Deutschland nehmen während der Schwangerschaft Alkohol zu sich, zehn Prozent häufig bis regelmäßig. Jährlich kommen deshalb bei uns mehr als 2000 Kinder auf die Welt, die an der schwersten Form der Schädigung durch Alkohol, dem fetalen Alkoholsyndrom (FAS), leiden. Die betroffenen Kinder haben geistige Behinderungen, körperliche Fehlbildungen und sind in ihrem Verhalten auffällig. Typisch sind Gesichtsverformungen und kleiner Kopfumfang, Herzfehler und Nierenschäden, verringertes Körperwachstum, Aufmerksamkeits- und Gedächtnisprobleme, Störungen der Feinmotorik, Sprachschwierigkeiten sowie leichte Reizbarkeit und Ruhelosigkeit. Weitere 10000 bis 15000 Kinder werden schätzungsweise mit der weniger stark ausgeprägten Form der Schädigung beziehungssweise Teilaspekten der Schädigung, sogenannten fetalen Alkoholeffekten (FAE), geboren. Da die Grenzen zwischen FAS und FAE fließend sind, gebraucht man üblicherweise die zusammenfassende Bezeichnung der fetalen Alkoholspektrum-Störungen (FASD).

Oft ist die Schädigung nicht gleich erkennbar, sie äußert sich erst mit der fortschreitenden Entwicklung der Kinder: mangelnde geistige Fähigkeiten, Konzentrations- und Lernschwierigkeiten, Hyperaktivität, neurologische Störungen. So ist es auch bei Max. Man sieht dem Jungen die schwerwiegenden Folgen, die der Alkohol an Gehirn und Nerven verursacht hat, nicht auf den ersten Blick an. Max hat einen starken Sprachfehler, der auch durch jahrelange logopädische Behandlung nicht zu beheben war. Nur Menschen, die täglich mit Max zu tun haben, sind in der Lage, das Sprachgewirr zu entschlüsseln und ihn zu verstehen. In einem Alter, in dem gesunde Kinder auf die höhere Schule wechseln, lernt Max in der Sonderschule gerade Lesen und Schreiben. „Und das ist schon ein sehr großer Fortschritt“, sagt Gela Becker-Klinger, die fachliche Leitung vom Kinderheim Sonnenhof.

Max wird manchmal unvermittelt aggressiv und verstößt immer wieder gegen Regeln. Verbote und Strafen kommen bei ihm nicht an. „Nicht weil er böse ist“, betont Gela Becker-Klinger, „sondern weil ihm die geistige Grundlage fehlt, Handlungen und damit verknüpfte Konsequenzen in einen Zusammenhang zu bringen.“

Familie Rosenke macht mit Pflegetochter Saskia ganz ähnliche Erfahrungen: „Oftmals tut Saskia genau das, was man ihr verbietet“, berichtet Inis Rosenke, die neben der Pflegetochter drei leibliche Kinder hat. Die Familie holte das Mädchen vor fünf Jahren zu sich, da war Saskia acht. „Bei Überreizung reagiert Saskia mit Schreianfällen und Wutausbrüchen, so daß man sie manchmal sogar zu zweit festhalten muß, um sie vor Selbstverletzung zu schützen oder um sie daran zu hindern, die Wohnungseinrichtung zu zerlegen“, fährt sie fort.

„Emotionale Störungen und Verhaltensauffälligkeiten sind typisch“, erklärt Dr. Reinhold Feldmann. „Die Kinder können ihre Affekte nur schwer kontrollieren und Frustrationen schlecht ertragen, unterliegen häufig großen Stimmungsschwankungen“, weiß der Diplom-Psychologe und Mediziner. Auch sind die intellektuellen Fähigkeiten stark vermindert, der Intelligenzquotient (IQ) liegt im Schnitt bei 75 (Normwert 100 plus / minus 15). Leistungsdefizite zeigen sich vor allem dann, wenn es um das logische Denken, das Lösen komplexer Aufgaben und das Rechnen geht.

„Saskia hat einen IQ von zirka 60“, sagt Inis Rosenke, „hinzu kommen diverse Komorbiditäten wie ADHS, mentale Retardierung, Tics und Zwänge. Saskia wird wohl ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen sein“, meint die besorgte Mutter.

In der Tat benötigen viele Kinder eine 24 / 7 Betreuung, das heißt, 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche; mit anderen Worten: rund um die Uhr – auch im Erwachsenenalter. „Die Betroffenen sind oftmals auf ein externes Gehirn angewiesen“, erklärt Inis Rosenke, „also auf jemanden, der für sie mitdenkt, um Handlungen zu ermöglichen wie ‚Du mußt dich noch waschen‘, ‚Du mußt saubere Kleidung anziehen‘, ‚Du mußt noch einkaufen‘. Die Betroffenen bedürfen ständiger Erinnerungen, weil sie sich Dinge einfach nicht merken können. Hilfreich und wichtig ist da vor allem eine geordnete und strukturierte Tagesroutine.“

Das Kinderheim Sonnenhof ist eine von zwei Einrichtungen in ganz Deutschland, die sich auf die Betreuung solcher Kinder versteht. Hier werden Björn und Max und die anderen nach Kräften gefördert. Die Therapiemöglichkeiten hängen allerdings immer davon ab, wie früh oder spät die richtige Diagnose gestellt wird. Viele Ärzte haben nicht das Wissen, um die Krankheit zu erkennen, spezialisierte Diagnose-Zentren sind rar. Nur in Berlin und Münster gibt es derzeit Ärzte, die auf Kinder mit alkoholbedingten Schäden eingerichtet sind. So wird die Ursache der Entwicklungs- und Verhaltensstörungen häufig gar nicht oder erst nach Jahren erkannt.

„Die richtige Diagnose ist aber wichtig, um sich auf die schwierigen Kinder einstellen und schnellstmöglich die notwendigen Therapien in die Wege leiten zu können“, meint Gela Becker-Klinger, „insbesondere vor dem Hintergrund, daß im Teenager-Alter eine Entwicklungssperre eintritt. Die Kinder bleiben dann auf dem bis dahin erreichten Entwick-lungsstand stehen, und der liegt im Vergleich mit den Altersgenossen deutlich unter der Norm. Daher gilt: Je mehr die Kinder bis dahin an Fertigkeiten erworben haben, desto günstiger ist es für sie.“

Um die Versorgung der betroffenen Kinder zu verbessern, sind weitere Diagnose-Zentren, Forschungsprojekte und Fortbildungen von Medizinern notwendig, darin sind sich die Fachleute einig. „Ansetzen muß man aber letzt-endlich in der Prävention“, meint Gela Becker-Klinger, „nur so lassen sich derartige Behinderungen vermeiden.“ Es gibt keinen allgemeingültigen und verläßlichen Grenzwert für Alkoholgenuß in der Schwangerschaft. „Schon kleinere Mengen können Folgen haben“, warnt Dr. Reinhold Feldmann. Sein dringender Rat an Schwangere: „Am besten gar keinen Alkohol trinken!“

1999 hat die von Pflegeeltern gegründete weltweite Selbsthilfeorganisation FASworld den 9. September als Aktionstag bestimmt, um Bezug nehmend auf die neun Monate dauernde Schwangerschaft daran zu erinnern, daß die betroffenen Kinder während der Zeit im Mutterleib Schäden durch Alkohol erlitten haben. Der FASD-Tag wird derzeit in 18 Ländern mit verschiedenen Veranstaltungen begangen, um auf die Probleme der Kinder und ihrer Pflegeeltern aufmerksam zu machen.

Foto : Gefahr im Glas: Ein edler Tropfen kann für ungeborenes Leben Unheil bedeuten.


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