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22.09.07 / Wortstau im Gehirn / Stottern ist eine organisch bedingte Krankheit, die oft auf viel Unverständnis stößt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-07 vom 22. September 2007

Wortstau im Gehirn
Stottern ist eine organisch bedingte Krankheit, die oft auf viel Unverständnis stößt
von Haiko Prengel

Es gibt Tage, da zweifelt Ruth Heap am Sinn ihrer Arbeit. Seit 14 Jahren versucht die Geschäftsführerin der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe (BVSS), die Öffentlichkeit über die wahren Ursachen des Stotterns aufzuklären – nämlich daß die Sprechstörung organisch bedingt ist. Doch der Umgang mit der Krankheit ist bis heute ein großes Mißverständnis: „Etwa 95 Prozent der Menschen inklusive vieler Ärzte in Deutschland denken, daß Stottern psychische Ursachen hat“, sagt die Diplompädagogin. Nein, es gebe keine typischen Stotterer-Persönlichkeiten, betonen Heap und ihre Kollegen immer wieder. Stotternde Menschen seien nicht nervöser oder gehemmter. Und auch nicht weniger intelligent. Doch diese Vorurteile blieben weit verbreitet.

Der Leidensdruck der Patienten ist groß. Den ganzen Tag sind sie damit beschäftigt, Sprechblockaden zu vermeiden. Jedes Telefonat, jeder Einkauf bedeutet neuen Streß. Soziale Kontakte sind oft eingeschränkt. „Manche geben das Sprechen ganz auf und verständigen sich nur noch per Handzettel“, schildert Alexander Wolff von Gudenberg, Facharzt für Allgemeinmedizin, Stimm- und Sprachstörungen.

Wie peinlich den Betroffenen ihre Schwäche ist, demonstriert eine Umfrage unter stotternden Vietnam-Veteranen: Sie gaben laut von Gudenberg an, in Gesprächssituationen mehr Angst zu haben als während des Gefechts. „Das zeigt, welch abstruse Ausmaße die Furcht vor der Blamage bei Stotterern annehmen kann“, sagt der Mediziner.

Seit einigen Jahren ist klar, daß der gestörte Redefluß auf Funktionsstörungen im Gehirn zurückgeht. 70 Prozent des Problems sind genetisch bedingt, 30 Prozent gehen auf Umwelteinflüsse zurück. Die Betroffenen – etwa 800000 Menschen in Deutschland – haben eine veränderte Sprechplanung und -durchführung. „Aktuelle Bilder aus dem Kernspintomographen belegen, daß Stotterer beim Sprechen andere Hirnregionen aktivieren als Normalsprecher“, erläutert von Gudenberg.

Heilbar ist das Syndrom nicht. Aber mit intensiven Sprechtherapien läßt es sich kompensieren. Für diese Erkenntnis hat die Wissenschaft lange gebraucht. „Es gab praktisch nichts, was Ärzte auf der Suche nach Heilmitteln nicht ausprobierten“, berichtet Heap. Bis Ende des 19. Jahrhunderts operierte man den Betroffenen ein Stück der Zunge heraus. Auch heute kommt es nach wie vor zu Fehlbehandlungen.

„Manche Mediziner betrachten Stotterer noch immer als seelisch krank und verschreiben ihnen Psychopharmaka“, beklagt die Pädagogin. Andere verabreichten das Nervengift Botulinumtoxin, um bei Sprechblockaden Verkrampfungen im Kehlkopfbereich zu lösen.

Mittlerweile gibt es mehr als 200 Therapieansätze zur Behandlung des Stotter-Syndroms. „Das finden Sie nicht bei vielen Krankheitsbildern“, sagt von Gudenberg. Er ist selbst von der Sprachstörung betroffen und hat ein gutes Dutzend Therapien hinter sich, alle endeten mehr oder weniger erfolglos. „Es gibt unter den Therapeuten eine Reihe von Scharlatanen“, sagt der Mediziner.

Erst während seines Promotionsstipendiums in den USA lernte von Gudenberg ein Konzept kennen, mit dem er eine gute Kontrolle über sein Sprechen erlangte. Dieses sogenannte fluency shaping-Verfahren setzt am Stimmeinsatz an.

Der Stotterer trainiert, die Anfänge jeder Silbe möglichst weich zu gestalten und das Sprechen so zu verflüssigen und zu harmonisieren.

In Deutschland ergänzte von Gudenberg das Verfahren um ein computergestütztes Nachsorgeprogramm, das den Patienten längerfristiges präzises Üben ermöglicht. Etwa zwei Drittel der Patienten hätten große Sprechfortschritte erzielt. Bei regelmäßiger Nachsorge sei die Rückfallquote gering, dies habe auch eine Langzeitstudie der Uni Kassel gezeigt.

Neben von Gudenbergs sogenannter Kasseler Therapie, die von den Krankenkassen bezahlt wird, hat sich laut BVSS auch der Nichtvermeidungsansatz bewährt. Ähnlich wie bei der Behandlung von sozialen oder anderen Phobien werden die Patienten dort bewußt heiklen Gesprächssituationen ausgesetzt und lernen so, mit ihrer Angst umzugehen. Hinzu kommen spezielle Atem- und Stimmtechniken. Angesichts der großen Anzahl der Therapien ist es für Betroffene ratsam, sich von der Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe bei der Therapeutensuche helfen zu lassen. Der Verein bietet Patienten, aber auch Eltern stotternder Kinder sowie Kinderärzten eine Fachberatung an. Ein Verzeichnis der BVSS listet Mediziner und Logopäden auf, die sich für die Stotterer-Therapie speziell haben ausbilden lassen. Darüber hinaus vermittelt der Verein Selbsthilfegruppen. „Wichtig ist, nicht zu irgendeinem Logopäden zu gehen“, betont Heap. Eltern empfiehlt sie, sich mit ihrem stotternden Kind frühzeitig an einen qualifizierten Therapeuten zu wenden. „Bei präventiver Hilfe haben Kinder die besten Chancen, daß ihr Stottern kein lebenslanges Problem bleibt“, betont die Pädagogin.

 

Wie sollte man auf Stottern reagieren?

Stottern wird durch kommunikativen Druck von außen verstärkt. Die Schulzeit etwa kann für stotternde Kinder sehr belastend sein. Hänseln und andere Formen der sozialen Ausgrenzung sind typische Probleme und verstärken die Symptome häufig. Dagegen nimmt die Schwere des Stotterns meist ab, wenn Betroffene mit einem Kleinkind, einem Haustier oder alleine sprechen.

Wer sich mit einer stotternden Person unterhält, sollte sich ganz normal verhalten und den Gesprächspartner ausreden lassen. Das Ergänzen von Wörtern ist keine Hilfe, sondern wirkt demütigend. Das Gleiche gilt für gut gemeintes Zureden wie „Immer mit der Ruhe“ oder „Hol’ tief Luft“. Ein gelassenes Zuhören kann die Situation dagegen entspannen. Alles, was man dafür braucht, ist ein wenig Geduld.   ddp

Quelle: Bundesvereinigung Stotterer-Selbsthilfe

Foto: Sprechen trainieren: Es gibt viele Therapien gegen Stottern.


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