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29.09.07 / Fortschritt in Winskowen / Von der »Glatze mit Vorgarten« zur »Wasserwelle« und Brennschere

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-07 vom 29. September 2007

Fortschritt in Winskowen
Von der »Glatze mit Vorgarten« zur »Wasserwelle« und Brennschere
von Heinz Kurt Kays

Sie war so, daß der aus einer Art von Nonsensspruch stammende Zweizeiler haargenau auf sie paßte. Und dieser lautet: „Links ’ne Pappel, rechts ’ne Pappel – mittenmang ein Pferdeappel.“ Gemeint ist die Chaussee, welche von Buchwalde nach Winskowen führte. Sie hatte eine Länge von gutding vier Kilometern und verband die beiden schon mit Namen vorgestellten Dörfer, gelegen im tiefsten Masuren.

Man kann sich unschwer vorstellen, daß es die „höhere Zivilisation“ nicht leicht hatte, auf dieser mit grobem Schotter bedeckten Landstraße bis in das besagte Winskowen zu gelangen. So dauerte es auch eine gehörige Weile, ehe Erwin Warchalla in den weltabgeschiedenen Ort einzog, um dortselbst das zu eröffnen, was er reichlich hochtrabend einen „Frisier-Salon“ zu nennen sich keineswegs scheute.

In Wirklichkeit handelte es sich dabei um eine ganz gewöhnliche Barbierstube, deren Inhaber in der nahegelegenen Kreisstadt gelernt hatte, mit Seife, Pinsel und Rasiermesser umzugehen und der zudem über eine der damals neumodischen Haarschneidemaschinen verfügte, welche von einer Batterie angetrieben wurde. Damit aber zog der Fortschritt ein in Winskowen, soweit er sich auf das ehrsame Friseurhandwerk erstreckte.

Bislang waren die Bewohner des masurischen Dorfes davon jedenfalls völlig unbeleckt gewesen. Die Lorbasse unter zehn Jahren trugen meist das, was man als „Glatze mit Vorgarten“ bezeichnen konnte. Ihnen wurde der Kopf nahezu ratzekahl geschoren, was fast immer mit großem Geschrei verbunden war, alldieweil das mechanische Gerät verteufelt zwickte und zwackte. Nur in Stirnmitte blieb ein Haarbüschel stehen, das auch „Pony“ genannt wurde.

Waren diese Knaben etwas größer geworden, fiel die althergebrachte Frisur weg. Dann wurde ihnen nämlich ein Topf über den Schädel gestülpt und alle Haare, die darunter hervorschauten, schnippelte Muttchen mit ihrer Haushaltsschere ab. Etwas besser hatten es die Marjellchen, denn sie durften durch die Bank fest geflochtene Zöpfe tragen, welche sie mit bunten Stoffschleifchen schmückten. Waren sie dann zu Frauen herangewachsen, bekamen sie den obligatorischen Dutt verpaßt, der blond oder braun sein konnte – je nachdem eben.

Nun aber war Erwin Warchalla gekommen, um die Leutchen aus Winskowen sozusagen mit Kamm und Schere auf ein höheres Kultur-Niveau zu heben. Und dieses gelang ihm ganz vortrefflich und überraschend schnell, da er über ein flinkes Mundwerk verfügte und zudem eine Menge Überzeugungskraft besaß. Die „Pony-Glatzen“ der lieben Kleinen ließ er allerdings zunächst links liegen. Dafür wandte er sich mit besonderem Eifer der reiferen Jugend zu und das mit großem Erfolg.

Denn nahezu über Nacht verschwanden die bisher üblichen „Topfschnitte“ mit ihren unregelmäßigen Fransen von den Köpfen dieser Altersklasse. An ihre Stelle trat eine Frisur, welche nach den Worten des stolzen Salon-Besitzers als „Fassong“ bezeichnet werden mußte. Dazu gehörten etwa „Koteletten“, mal lang, mal kürzer, schräg oder gerade auslaufend. Oft kam es auch zu einer mit Hilfe von nach Rosen oder Veilchen duftender Pomade in Form gehaltenen „Schmalztolle“.

Natürlich führte diese neumodische Haartracht, von der männlichen Dorfjugend überwiegend an Sonntagen zur Schau gestellt, zu viel Gerede unter der älteren Einwohnerschaft von Winskowen und ebenso zu recht drolligen Mißverständnissen. So meinte etwa Oma Tibulski im Gespräch mit ihrer Nachbarin Grete Balzereit: „Erbarmung aber auch! Was es nich’ alles geben tut heutzutage. Kot’letts haben sie am Kopf, diese nichtsnutzigen Lachuder, und Schmalzstullen auch. Wo das nur hinführen soll, möcht’ ich reineweg wissen.“

Es führte dahin, daß auch die Marjellen in hellen Scharen im Frisier-Salon von Erwin Warchalla erschienen. Sie taten es zumeist direkt nach ihrer Einsegnung durch Pfarrer Stach. So eilig hatten sie es, ihre langen Zöpfe loszuwerden samt den bunten Schleifen. Ihr Wunschtraum war statt dessen ein kurzgeschnittener Bubikopf, möglichst durch Wasserwellen verschönt oder auch durch krause Löckchen, erzeugt mit Hilfe einer Brennschere. Und den machte ihnen der Dorf-Figaro von Winskowen gerne und mit großem Geschick zur Wirklichkeit.

Selbstverständlich mußte Oma Tibulski auch hier ihren Senf dazugeben, obwohl sie wegen ihrer seit Jahren bestehenden Schwerhörigkeit wiederum nur knapp die Hälfte mitgekriegt hatte. „Nei, nei“, so räsonierte sie vor sich hin, „so eine Dammlichkeit aber auch. Einmal brennen sie die Haare und andersmal löschen sie mit einer Wasserwelle. Das bringt doch nuscht nich’. Und ‚Bubi‘ wollen sie partout sein alle miteinander. Womöglich ziehen sich diese Marjellen bald lange Hosen an wie die Mannskerle. Wie das wohl aussehen tät?“

Das Beispiel von Winskowen machte rundherum Schule. Denn den Marjellen wie den Lorbassen in den Nachbardörfern begannen die neuartigen Haartrachten mit eins zu gefallen. So geschah es denn, daß im Salon von Erwin Warchalla zunehmend neue Kunden erschienen. Den Anfang machte eine Bauerstochter aus Buchwalde, die eines Abends an die Ladentür klopfte und etwas verlegen erklärte: „Einen Bubikopf möcht’ ich, wenn geht mit Wasserwellen!“

Selbstverständlich erfüllte ihr unser Figaro diesen Wunsch. Er tat es auch mit einem Fräuleinchen aus Heidemühle, dem er mit seiner Brennschere die schönsten Korkenzieherlocken hinzauberte. Und ebenso verpaßte er einem Jüngling nach dem anderen aus den umliegenden Orten den begehrten „Fassongschnitt“ und brachte dem einen oder anderen bei, wie man mit wohlriechender Pomade eine Haartolle zustandebrachte, welche ein ganzes Erntefest lang in Form blieb.

So war über jene Chaussee, auf der noch eine ganze Zeit lediglich Pferdeäppel herumlagen, der Modefortschritt ins tiefste Masuren gekommen und hatte das Erschienungsbild der Bewohner von Winskowen sowie einiger Nachbardörfer verändert. Nur eins war geblieben, die „Glatze mit Vorgarten“ nämlich. Sie ist noch heute in manchem Album zu bestaunen, zumeist auf Fotos vom ersten Schultag. Und die mittlerweile alt gewordenen und fern der Heimat lebenden Lorbasse betrachten sie immer wieder mit leiser Wehmut im Herzen.


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